Archiv der Kategorie: Flüsterzettel

weil du mir gehörst – Theaterprojekt

„Bedenken Sie, er hat getötet, was er am meisten liebte, gewähren Sie ein mildes Urteil!“ So plädiert der Verteidiger 1985 in Wien für Winfried B., der seine Lebensgefährtin Konstantina auf offener Straße mit einer Pistole hingerichtet hatte. 2013 dann der Mord an Saskia.  Er hat sich wiederum selbst zum Richter und Henker ernannt.

Eine „Beziehungstat“, wie es bis heute heißt. Auch in Kunst und Kultur ist „verirrte Liebe“ ein wiederkehrendes Motiv: Othello erwürgt Desdemona, Woyzeck ersticht Marie. Der Täter als tragischer Held, das Gemetzel eine Liebestat.

Aber was haben Konstantina und Saskia uns  noch zu erzählen?  Dabinnus arbeitet sich erneut durch Prozessakten, Befragungen, Notizen:  Bei den Recherchen zu Winfried B. und dem System, das ihn gewähren ließ, tun sich weitere Abgründe auf.

Durch ein Arbeitsstipendium des Kultureferates München konnten 2019/20 die Vorarbeiten für diese Theaterarbeit angegangen werden. Eigene poetische Texte von  Saskia Stetzer werden eingebunden, ebenso der Blog von Marion Zagermann, in dem sie über ihr Martyrium als Gefangene des Winfried R. berichtet und andere authentische Materialien.

In der Intimität des Theaters vermischen sich Zeit- und Raumebenen, wird verdichtet. Es gibt Kurzschlüsse  und Momente und Situationen werden neu beleuchtet.  Das Lügensystem, das dabei unter anderem zum Vorschein kommt weist bittere Parallelen zu Putin und der aktuellen Lage auf. Aber das nur „nebenbei“,  das ist ein anderer Gewaltschauplatz.

In diesem Theater-Spiel kann sich jeder in der Position des Täters oder des Opfers spiegeln oder als Freundin, Freund oder Vertreter:in von Law and Order.

 

Berlin, sächsische Straße

„Uns geht es Gott Lob unverändert“

 

(Berlin, 18.6.23)
An diesem heißen Junitag  2023 versammelt sich ein kleines Auditorium auf dem Gehweg vor dem Haus -Sächsische Straße 75- in Berlin, Charlottenburg-Wilmersdorf.  An diesem 18. Juni  ist es genau 80 Jahre her, daß von dieser Adresse 1943 die letzte Post des Ehepaares Meyer an ihre beiden Söhne im Internat in St. Gallen geschrieben wurde.
Fotos, Video und Audiomaterial in Kürze hier

Lotte und Hans Meyer mußten im Sommer  1939 notgedrungen nach Berlin umziehen.  Denn der Mühlenbetrieb der Familie Meyer in der Provinz Ostpreußen war nach langen Kämpfen dann doch „arisiert“ worden. Gutsbesitzer Georg Dabinnus hatte das Unternehmen „übernommen“.  Die Meyers mußten ihr Zuhause verlassen, bei Verwandten und Bekannten in Berlin Zuflucht suchen.  Dr. Hans Meyer blieb trotzdem weiter als „Fachberater“ bei seinem ehemaligen Großbetrieb tätig, durch welche Hintergründe und Beziehungen dies möglich war, ist bisher nicht nicht geklärt.

Im autobiografischen Roman der „Passfälscher“ von Cioma Schönhaus ( Buch:  Der Passfälscher  Verfilmung:  Passfälscher ) werden Begegnungen mit  Dr. Meyer anschaulich geschildert.
Ab dem Herbst 1941 liefen die Deportationen. Trotz aller Entrechtungen und täglichen Schikanen blieb das Ehepaar Meyer noch eine zeitlang vom Schlimmsten verschont. Sie schrieben fast täglich Briefe und Karten an ihre heranwachsenden Söhne,  die sie 1936 in die Schweiz schicken konnten und seit 1939 nicht mehr gesehen haben, die aber auf diese Weise überlebt haben. Natürlich konnten Hans und Lotte Meyer nicht schreiben, wie es wirklich um sie bestellt war denn Gestapo und Wehrmacht kontrollierten die gesamte Post.  Die Transkription der Briefe und deren Vorstellung wird zu ein Extra- Projekt bilden zu dem die Ursula-Lachnit-Fixson-Stiftung ein Förderung zugesagt hat.  Ausschnitte aus den Briefen werden als kurzes  Hörstück eingespielt.
Wortbeiträge von Billy Meyer, Henri Rösch und  Burchard Dabinnus.
Stimmen (Briefe-„Hörstück“):  Katja Amberger, Christian Buse, Tine Hagemann,
Einpielung Cello: Brigitte Meyer

„Die Mühlengeschichte“ -Podium am 25.2. und 26.2.23

Foto-Privat Fam. Meyer, Dabinnus, Schröder. Malerei-Brigitte Meyer. Collage Marlene Rösch.
Ein Abend und eine Matinée mit der  Mühlengeschichte. Die gleichen Fragestellungen und doch andere Schwerpunkte, Fragen und Reaktionen aus dem Publikum.

Vom 25.2. weiter unten auf dieser Seite ein Transkript. 

Vom 26.2. ein Video vom offenen Gepräch "Familienangelegenheiten" . 

Ton und Bild leider etwas mangelhaft! Macht nix! Mit Kopfhörer reinhören ist trotzdem interessant! 

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1- Video „Mühlenbilder“

( live begleitet v. Brigitte Meyer und Ardhi Engl)

 2- Theater-Performance- „Ein Erbe“

(Fotos  von Franz Kimmel  + Audiospur. Es empfehlen sich Kopfhörer!)


3- Podiumgespräch  als Transkript

 Brigitte Meyer (Musikerin, Malerin), Billy Meyer (Journalist), Dr. Christian Rohrer (Historiker),  Henri Rösch  (geb. 1993, Enkel, Urenkel, Student ‚Public-History‘), Simone Bartels (geb. 1964, Schwester B. Dabinnus), Burchard Dabinnus


AUDIO- „WEIT SPANNTE SICH DAS LAND“

 

Henri Rösch (Moderation) : Wir haben gerade den Einspieler gehört, in dem dieses Ostpreußen so sagenhaft erscheint, ein bisschen märchenhaft das Land unserer Vorfahren?

Christian Rohrer: Ostpreußen existiert nicht mehr, aber Ostpreußen existiert noch in der Erinnerung und als Sehnsuchtsort:  Die Alleen, die Felder, Wiesen, Seen. Ostpreußen existiert auch in der Erinnerung als eine agrarische Provinz und obwohl es dort viel Bauerntum gab, ist Ostpreußen immer noch das „Junkerland“, das Land der jungen Herren, die über riesige Güter verfügten, die in prächtigen Gutshäusern wohnten. Die Dohnas, die Lehnhoffs, die ein Heer von Landarbeitern beschäftigten und in aller Regel konservativ waren. Ostpreußen war eine der Kornkammern des Deutschen Reiches. Und so wie die Landwirtschaft im Zentrum der Provinz stand, war auch die Kirche sehr wichtig. Die Gutsherren waren wichtig und die Pastoren waren wichtig.
Wenn der Pastor etwas sagte, hatte das Einfluss. Die Familien sind am Sonntag, im Sommer mit der Kutsche, im Winter mit dem Schlitten, zur Kirche gefahren. Nach dem Ersten Weltkrieg,  bildete sich auch noch eine Art Regional-Identität, das Ostpreußentum. Und wie im ganzen Reich war der Nationalismus stark.

Simone Bartels: Ja, bei uns war das ein gedeckeltes Sehnsuchtsland, verdecktes Sehnsuchtsland. Die Gutsbesitzerfamilie Dabinnus besaß das Gut Lichtenfelde und zwei andere. Es war ein Gutsbetrieb mittlerer Größe und ganz klassisch mit Bediensteten, Gutshaus. Die zwei Söhne sind mit einem Privatlehrer großgeworden.

Bestehende Gebäude in Bartoszyce 2022. Foto- Joana Jakutowicz

Henri Rösch: Und die Mühlenwerke der Familie Meyer, das war schon länger keine Mühle mehr im romantischen Sinne, wo dasMühlenrad klappert….

Briefkopf Mühlenwerke

Billy Meyer:  Ich kann nicht sehr viel erzählen, weil unser Vater hat eigentlich mit uns darüber nicht gesprochen. – Ich kann aber was erzählen in Bezug auf die Sehnsucht: Mein Vater hat 1959 im Elsass ein kleines Häuschen gekauft und es war ungefähr 40 km von Basel weg. Und so richtig bewusst geworden, wie ähnlich das dort ist wie in Ostpreußen, ist mir das, als ich dann 1991 mit meinem Vater, unserem Vater, dorthin gereist bin. Dort hat er mir dann auch gesagt, dass dieses Elsass ihn immer wieder an Ostpreußen erinnert.

 

Brigitte Meyer: Ich kann ergänzen, dass das wirklich eine große Fabrik-Mühle war, mit vielen Angestellten. Und mir fällt gerade noch ein, dass es im Nachlass noch ein oder zwei Mehlsäcke gab, darauf stand: „Gestohlen bei Mühlenwerke Meyer“.                                                    

 

Billy Meyer: Was mich die ganze Zeit so umtreibt, ist eigentlich, dass unser Vater uns nie wirklich die Bedeutung dieser Mühle irgendwie klarmachen wollte oder gesagt hat, dass er beispielsweise stolz war, dass es diese Mühle so lange gab, also wir haben nie etwas gehört, das war wirklich abgespalten.

AUDIO- PAUL GRAETZ (Dokument a.“Wiener Library“, London)

 

Henri Rösch: Ich habe in einer anderen Quelle gelesen, dass die Meyers in Bartenstein; die Familie waren, die am meisten Steuern gezahlt hat, um sich so ein bisschen die Größen-Dimension dieses Betriebes vorzustellen und welche Bedeutung er für die Region hatte.  Es gab auf jeden Fall diese Geschäftsbeziehung zwischen Familie Meyer und Familie Dabinnus: Der Weizen von den Feldern kam nach Bartenstein in die Mühle, umgekehrt wurde Dünger gekauft.  Aber es war auch nicht nur eine Geschäftsbeziehung sondern es wird auch von einer freundschaftlichen Beziehung berichtet?

Simone Bartels: Ja, unser Vater erzählte, dass es da freundschaftliche Verbindungen gegeben hatte, da waren ja auch zwei Söhne und in der anderen Familie auch zwei Söhne, dass es da einen freundschaftlichen Austausch gab. Zwei der Kinder schrieben zusammen ein Theaterstück, führten das dann auch auf. Man besuchte sich am Sonntag schon am Nachmittag, damit die Kinder miteinander spielen konnten, und dann gab es noch die Geschichte vom geschenkten Kaninchen, das eine Cousine eures Vaters unserem Vater geschenkt hat.

Henri Rösch: Wie war die weitere Entwicklung im Verlauf der 1920er Jahre und die Situation der Jüdinnen und Juden in Ostpreußen?

Christian Rohrer: Ostpreußen war nach dem Ersten Weltkrieg durch einen Korridor vom Kerngebiet des Deutschen Reiches getrennt, das hat die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Ostpreußens, die ohnehin schon bestanden, verschärft , und das führte zu einer Wahrnehmung dass Ostpreußen eine Insel sei die -wie ist es damals tatsächlich hieß- gegen die „slawische Flut“ verteidigt werden müsse, zum Bollwerk ausgebaut werden müsse.

Juden gab es in Ostpreußen ungefähr 12.000. Diese Juden lebten in aller Regel in größeren Städten, und gehörten dort zur Elite, und waren sozusagen ganz normale Deutsche, assimiliert, deutsch. Die Männer kämpften im Ersten Weltkrieg Seite an Seite mit ihren nicht-jüdischen Kameraden.

Henri Rösch: Das gesellschaftliche Panorama, die Gesellschaft in Ostpreußen, vor allem aber auch die gesellschaftliche Elite und wie das zusammenhängt mit der Entwicklung des Nationalsozialismus in Ostpreußen und dem Gauleiter Erich Koch?

Gauleiter Koch. Screenshot aus TV-Dokumentation

Christian Rohrer: Ich wollte noch erwähnen, dass in Ostpreußen bis in die Weimarer Zeit hinein; die Gutsherren die treibende Kraft waren. Die hatten ihren parlamentarischen Arm, die „Deutsche nationale Volkspartei“. Ostpreußen war politisch und gesellschaftlich agrarisch und protestantisch und nationalkonservativ geprägt. Dieses Milieu brach abrupt ein unter der Führung des berüchtigten Gauleiters Koch, der 1928 vom Rheinland nach Ostpreußen beordert wurde.

AUDIO- GAULEITER KOCH REDE-AUSCHNITT

Henri Rösch: Was verändert sich in der politischen Stimmung in dieser Zeit?

Christian Rohrer: In der Weimarer Zeit -in der Regierungsphase der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre- heizt sich die Stimmung auf, aus verschiedenen Richtungen. In Ostpreußen waren 1914/15 für einige Monate russische Truppen, d.h. die Wehrverbände konnten für Ostpreußen die nationalistische Karte spielen.

Auch kam schon 1923 durch pogromartige Ausschreitungen auch der Antisemitismus wieder auf. Noch mehr verstärkt wurde das Ganze, als nationalsozialistische Parteifunktionäre den Juden offen mit Vertreibung und Ermordung drohten.
Als dann 1929 durch die Krise der Landwirtschaft – im Kern  eine Schuldenkrise- sich diese Krise in eine Wirtschaftskrise verwandelte, öffneten sich die Schleusen für die NSDAP.

Sie hat dann bei den Provinziallandtagswahlen 1929 vier Prozent erreicht, bei den Reichstagswahlen im Oktober 1930 zweiundzwanzig Prozent und stieg damit schon zur stärksten Kraft Ostpreußens auf. Und war dann im Juni 1932 bei der Reichstagswahl bei siebenundvierzig Prozent.

Und was wir über die Stimmung sagen können: Es gab ganz klar eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft.

 

Historisches Bildmaterial aus Artikeln, Video-Dokus

 

Ehepaar Ellinor und Georg Dabinnus

Henri Rösch: Was war die politische Haltung der Großeltern Georg und Ellinor Dabinnus?

Simone Bartels: Ich hatte meinen Vater dazu gefragt. Ich habe im Ohr, dass die Großeltern „Zentrum“ gewählt hätten, aber Zentrum war ja doch eigentlich katholisch?  Aber sonst waren sie monarchisch gesinnt, gegen die Bolschewiken, bloß keinen Kommunismus.

Burchard Dabinnus: Wahrscheinlich auch eher keine Demokraten in dem Sinne, sondern: „Wir wollen den alten Kaiser Wilhelm wiederhaben! Und den guten Hindenburg“.

Simone Bartels: Ja natürlich auch Hindenburg-Verehrer. Sogar noch auf den Schreibtisch unseres Vaters hatte sich ein Hindenburgbild verirrt.  (Anmerkung: neben der Queen, die da auch stand)

Henri Rösch: Also klar konservativ aber irgendwie in der Familienerzählung definitiv nicht nationalsozialistisch. Aber dann gibt es ja doch Partei-Eintritte, 1933?

Burchard Dabinnus: Ja und gleichzeitig -am 1.5.1933-  ist die Großmutter auch in die „Reichsfrauenschaft“ eingetreten und da muss man eine besondere Formulierung unterschreiben, sinngemäß, dass man bestätigt, dass man rein „arischen „Ursprungs ist und keinen farbigen oder jüdischen „Rasseeinschlag“ hat oder der Freimaurerloge angehört. Das muss man unterschreiben. Diesen Moment muss man sich vorstellen, dass man so etwas unterschreibt, aus welchen Gründen auch immer.

Billy Meyer: Dann würde mich natürlich interessieren, unsere Großeltern, ob die denn wussten, ob sie gewusst haben, dass eure Großeltern in der Partei waren?

Henri Rösch: Das werden wir -genauso wie die Motive für den Eintritt- so nicht mehr nachvollziehen können.

Burchard Dabinnus: In einem Nachkriegsbrief wird über die Großmutter gesagt: „Sie hat in den zwölf Jahren das Unrecht immer benannt und war immer ein Vorbild“…

Henri Rösch: Das steht jetzt so nebeneinander…
Was waren denn die generellen Motivation einzutreten und wie hat sich das verändert mit der Zeit?

Christian Rohrer: Natürlich, jeder Parteieintritt ist individuell motiviert, man kann aber auch Trends ausmachen. Man kommt recht weit, wenn man fragt, welche persönlichen Vorteile jemand von einem Parteieintritt hat. In der Zeit vor 1933 hatte man gewiss eher Nachteile von einem Parteieintritt, dass man den Job verliert zum Beispiel. Das heißt, wer vor 1933 in die Partei eingetreten ist, der war in aller Regel vom Führer begeistert, der war Antisemit, der war Anti-Marxist, er hasst die Demokraten.

Nach der Machtergreifung können diese Motive allesamt immer noch gültig gewesen sein, aber -insbesondere nach der Reichstagswahl 1933- kommen neue Motive hinzu. Die Nationalsozialisten übernehmen den gesamten Staat, man spricht dann von den so genannten „Märzgefallenen“, von „Konjunkturittern“. Dass Leute aus bestimmten opportunistischen Motiven heraus in die Partei eingetreten sind. Weil sie wussten, dass ist eine der Bedingungen, um im Staatsdienst in bestimmte Positionen zu kommen zum Beispiel.

Henri Rösch: Die pragmatischen Parteieintritte…

Burchard Dabinnus: Da gibt es sinngemäß einen Satz von Vaclav Havel: „Gerade die pragmatischen Systemanpasser werden in jedem totalitären System zu einer maßgeblichen Unterstützung“.

Wir wollen uns jetzt mit dem Gauleiter Koch und seinem System nach 1933 beschäftigen. Was hat das konkret mit der weiteren Geschichte der „Bartensteiner Mühlenwerke“ zu tun?

Screenshot aus Video-Dokumentation

 

AUDIO- PAUL GRAETZ ZITAT

Henri Rösch: Es wird jetzt vielleicht ein bisschen technischer, aber es ist ganz wichtig, um ein Element in dieser Geschichte zu verstehen, die Systematik dieser Bedrohung, die in dem Zitat von Paul Graetz gerade zum Vorschein kommt, die mit der etablierten nationalsozialistischen Herrschaft immer mehr wird.

Christian Rohrer: Um diese Bedrängung, Bedrohung im wirtschaftlichen Bereich in Ostpreußen zu verstehen, müssen wir ganz kurz zitieren, was war sozusagen das Ziel der Nationalsozialisten? Das war der reinrassige deutsche Arier und das Reich an der Spitze der Welt als Fernziel. Als Zwischenschritt dorthin galt es Lebensraum im Osten zu erobern.
Und um das wiederum zu erreichen, musste -wie Hitler in einer Rede 1936 niedergelegt hat- die Wirtschaft kriegsfähig werden, musste die Wehrmacht einsatzfähig sein.
In Ostpreußen, wo Gauleiter Koch mittlerweile auch Oberpräsident geworden war -er war dann auch zuständig für den staatlichen Zweig der Provinz Ostpreußen- wurde das Wirtschaftssystem des „Dritten Reiches“ übertragen und die Ostpreußen hatten eine sogenannte „Sonderlage“ ausgerufen mit der Idee, als ganz im Osten gelegene Provinz, Privilegien zu bekommen. Mit der Idee, Ostpreußen als „Bollwerk“ auszubauen.

In diesen Kontext gehört die Gründung der „Erich Koch Stiftung“.
Erich Koch hat die Stiftung Ende 1933 gegründet. Ganz zu Beginn war nur die „Preußische Zeitung“ in dieser Stiftung. Eine Zeitung aus der Kampfzeit, die Nazis haben ja dann die Presse zentralisiert.
In den Jahren 1934/35, kamen immer weitere Verlage in diese Stiftung. Es gelang auf diese Weise auch ein gewisser persönlicher Zugriff auf die öffentliche Meinung.

Das Grundprinzip dieser Stiftung war so, dass sie Gewinne erwirtschaftet hat und aus diesen Gewinnen wurden dann nach und nach, ab Ende 1936 neue Unternehmen der Stiftung einverleibt.
Die Stiftung war lukrativ unter den Bedingungen der NS Wirtschaft. Durch die Erwirtschaftung neuer Gewinne konnte man neue Unternehmen in die Stiftung zu pressen versuchen. Die Stiftung wurde dann immer größer, hat auf verschiedenen Wegen im Zuge des Wirtschaftsaufbaus der Provinz neue Unternehmen bekommen. Dann ab 1939 wurde Ostpreußen vergrößert:  Im Süden wurde dann das Gebiet Zichenau angehängt, dort wiederum gab es neues Futter für das Wachstum der Stiftung. Und als Koch dann auch noch Reichskommissar für die Ukraine wurde, kam auch noch der Bezirk Bialystok dazu, so dass die Stiftung auch in diesem Bereich wachsen konnte. Die Stiftung soll am Ende des Krieges einen ungeheuren Wert von 330 Millionen Reichsmark besessen haben.

Henri Rösch: Aufgrund der Zielsetzungen der Nationalsozialisten und des Gauleiters und der wirtschaftlichen Bedeutung der „Bartensteiner Mühlenwerke“ zu dieser Zeit, können wir davon ausgehen, dass die Koch-Stiftung nicht uninteressiert daran gewesen ist. In den Zitaten von Paul Graetz klang an, wie man sich gegen eine Übernahme gewehrt hat. Das Verhältnis der Familie Dabinnus zum System Koch? Es gibt diese Familienerzählung, dass Gauleiter Koch nicht zur Jagd eingeladen wurde?

Foto- Fam. Dabinnus

 Simone Bartels: Es gab auf dem Gut des Großvaters große Jagden, anscheinend wollte Gauleiter Koch dazu eingeladen werden. Aber Großmutter Ellinor wollte es verhindern und wollte es partout nicht. Also wurde er nicht eingeladen und unser Großvater wurde aber vorgeladen.

Billy Meyer: Die Frage, die bei mir jetzt auftaucht: Wie ist es denn gelungen, dass die Mühlenwerke nicht in die Erich Koch Stiftung einverleibt wurden?

Henri Rösch: Eine Frage, auf die wir noch zurückkommen werden und versuchen eine Erklärung dazu zu finden.  Die Erzählung der Familie sagt, naja, man war ja irgendwie dagegen, auf jeden Fall gegen Koch. Aber auf der anderen Seite stehen zumindest diese Anpassungsversuche mit Parteimitgliedschaft etc. und zudem ist in diesem Moment die politische Situation schon soweit, dass sich auf jeden Fall etwas ändern wird, etwas ändern muss.

 Christian Rohrer: Also gab es politische Bestrebungen, diese Mühlenwerke zu ruinieren, man versucht sie wirtschaftlich so in die Zange zu nehmen, dass sie eigentlich nicht mehr rentabel zu führen waren.

Burchard Dabinnus: Gutsbesitzer Georg Dabinnus sagt, dass er weiter dort eingekauft habe…

Unbekannte Person. Foto- Besitz Fam. Dabinnus

Henri Rösch: Der politische Druck hat anscheinend so stark zugenommen, dass zu dem Zeitpunkt 1937, nicht mehr zu vermeiden war, irgendwas zu unternehmen, d.h. die „Arisierung“ war eigentlich nicht mehr zu vermeiden.

Wir wissen, dass sich 1937 tatsächlich die Besitzverhältnisse der „Bartensteiner Mühlenwerke“ verändern.
Familien-Legenden berichten von Plänen der ehemaligen Geschäftspartner der Meyers, diese Mühle zu pachten oder sie irgendwie so zu übernehmen, so dass man sie vielleicht dem nationalsozialistischen Regime, der Koch Stiftung entzieht.

AUDIO-JOACHIM SCHRÖDER (Jg.1939 Sohn eines neu eingesetzten Geschäftsführers ab 1939)

 

AUDIO- ZITAT PAUL GRAETZ

Inhaber Dr. Paul Graetz, Isaak Meyer und Dr. Hans-Joseph Meyer. Foto Fam. Meyer

Henri Rösch: Diese Erzählung der Hilfestellung, die sich natürlich ganz schön anhört. Im Gegensatz zur Beschlagnahmung. Aber ganz grundsätzlich: wäre so eine Form von „Rettung“ überhaupt möglich gewesen?

 

 

Christian Rohrer:  Das ist keineswegs ausgeschlossen.  Gauleiter Koch war mächtig und stark in der Durchsetzung seiner Interessen. Er hat sich auf dem Weg zu seiner Stellung aber auch viele Feinde gemacht und stand Ende 1935 kurz vor dem Sturz. Er wurde dann von Hitler persönlich als Oberpräsident wieder installiert und als Gauleiter blieb er im Amt.  Er war von nun an unantastbar, auch für Leute wie SS Führer Himmler. Koch hat sich Feinde gemacht und diese Feinde konnten dann nach dieser so genannten „Oberpräsidentenkrise“ Koch natürlich nicht angreifen,  aber man konnte doch zumindest sich seinen Wünschen widersetzen, Sand ins Getriebe streuen, und auf diesem Wege ist es durchaus denkbar, dass der Versuch die „arisierte“ Firma in die Stiftung zu drücken, dass es hintertrieben worden ist. Es gab neben Koch andere starke Kräfte im Reich.

Henri Rösch: Spekulationen… klar ist jedenfalls ist dann diese Übernahme. Wann habt ihr überhaupt von dieser Übernahme gehört zum ersten Mal?

Simone Bartels: Ich habe von dieser Übernahme dieser Geschichte erst gehört, als der Billy uns besucht hat und das war im Jahre 2006. Ich wusste vorher nur, es gab jüdische Freunde der Eltern, aber es wurde nicht davon erzählt, dass es im Besitz ist eine Mühle gab, es gab nur das Gut.

AUDIO- HEIKO DABINNUS (Jg.1921,Vater  der Geschwister Dabinnus /alte Kassettenaufnahme)

Burchard Dabinnus: Da hat er ja tatsächlich mal darüber gesprochen, der  BND-Mann, der sonst doch immer so schweigsam war: „Doktor Meyer bat, dass man eine Auffanggesellschaft bildet, dass die Mühle nicht beschlagnahmt werden kann“. So diese Erzählung unseres Vaters.

Henri Rösch: Wir haben jetzt schon von einer Auffanggesellschaft gehört, wir haben von einem Konsortium gehört, klar ist jedenfalls, dass es ab 1937 eine GmbH ist, dass sich die Besitzverhältnisse verändert haben. Klingt das nach einer typischen „Arisierungs“-Konstruktion der Koch Stiftung?

Christian Rohrer: „Arisierungen“ sind ja ein Teil der Judenverfolgung, schrittweise bis zum Holocaust, gewissermaßen der wirtschaftliche Teil der Judenverfolgung, mit Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft: Leute werden aus ihren Berufen gedrängt oder Unternehmen von jüdischen in „arische“ Hände überführt.

Es gibt durchaus einen typischen Ablauf einer „Arisierung“, dass ein Unternehmen, das vorher von einem Juden geführt wird, an einen Interessenten kommt, an einen Parteibonzen, an einen Unternehmer, der geschäftliche Beziehungen hat.  Der fragt erst bei bestimmten Stellen in Partei und Staat an, wie es denn aussieht mit dem Unternehmen. Dann kümmern sich die Stellen drum, zum Beispiel die Industrie und Handelskammer wurde in der Regel eingeschaltet und regional in den Provinzen und Ländern die Gauwirtschaftsberater, die eingeschaltet wurden, das Wirtschaftsministerium natürlich, so dass beraten wurde, wie gehen wir weiter vor. Und der nächste Schritt, den wir auch bei der Bartensteiner Mühle sehen: Firmen werden dann unter Druck gesetzt. Das Wirtschaftssystem im Dritten Reich arbeitete mit der Zuteilung von Rohstoffen, von Kontingenten, und so wurde nach und nach der Druck erhöht, bis dann der jüdische Eigentümer verkauft hat. Der jüdische Eigentümer hat von dem Geld nicht mehr viel gesehen, weil er für die „Reichsfluchtsteuer“ fast alles wieder abgeben musste. Die „arischen“ neuen Eigentümer haben dann in der Regel eine Auffanggesellschaft gegründet, eine GmbH und haben die alte „jüdische Firma“ in die neue „arische“ überführt. Und das beobachtet man im ganzen Reich, und in Ostpreußen besonders unter dem Dach der Erich Koch Stiftung.

Burchard Dabinnus: Dann doch keine Rettungslegende, sondern eher eine „normale Arisierung“?!

Henri Rösch:
Und weil es jetzt noch nicht kompliziert genug ist, wird jetzt noch eine weitere Person eingeführt, die eine ganze Menge Fragen aufwirft. Gauleiter Koch hatte einen äußerst hinterlistigen, gerissenen Beauftragten, der auch Teil dieser Stiftung war, in gewisser Form zumindest. Er bekam Aufträge von oder handelte im Auftrag der „Koch-Stiftung“. Ganz offensichtlich also nicht irgendwer…

AUDIO- ZITAT GRÄFIN DÖNHOFF (a.d. „ZEIT“ 1949)

 

Christian Rohrer: Es handelt sich um Doktor Bruno Dzubba. Er war gewissermaßen das Verbindungsstück zwischen Gauleiter Koch und der Erich Koch Stiftung und dem Wirtschaftsaufbau in Ostpreußen.   Die „Erich Koch Stiftung“ wurde von zwei Leuten geführt, einer davon war Dzubba, 1894 geboren, Beruf Kaufmann. Er hat auch promoviert und wurde Wirtschaftsprüfer und war einer der Geschäftsführer der „Deutschen Allgemeinen Treuhand“.
Diese Treuhand war ein Teil der Erich Koch Stiftung und der Kollege von Dzubba, Karl Friedrich, hat die Wirtschaftsprüfungen vorgenommen, während Dzubba als rechte Hand Kochs auftrat. Er trat auch mit dem politischen Gewicht Kochs auf und ging so auf Firmen zu und versuchte bestimmte Unternehmen in die Erich Koch Stiftung zu drängen.  Das konnte Teil des ostpreußischen Wirtschaftsaufbaus sein, oder die „Arisierung“ wurde dann so gedreht, dass die Firma durch die Erich Koch Stiftung „arisiert“ wurde oder kurz danach übernommen wurde. Und das lief dann in aller Regel so, dass diese Treuhandgesellschaft Anteilseigner wurde und so wurde die frühere „jüdische Firma“ in die Erich Koch Stiftung eingebracht.

Henri Rösch: Es gibt ein Fotoalbum mit Fotos der dreißiger und vierziger Jahre…

Simone Bartels: Als unser Vater noch einigermaßen schreiben konnte, habe ich ihn gebeten Fotos zu beschriften, weil ich dachte es ist wichtig zu wissen, wer auf diesen ganzen schwarz-weiß Fotos da drauf ist.

Ingrid Dzubba. Foto- Fam. Dabinnus

Burchard Dabinnus:  Da gibt es eben ein Foto von einer Cousine des Vaters, die wir nur so als „Tante Ingrid“ kennen, die auf tragische Weise  genau vor 50 Jahren, am 16. Februar 1973, verunglückte, mit ihrem Wagen auf der Luitpoldbrücke das Geländer durchbrach, in die Isar stürzte. Und unter diesem Foto von ihr als junger Frau steht: „Ingrid, Tochter des Wirtschaftsberaters Doktor Bruno Dzubba“.
Ist Bruno Dzubba jetzt die identische Person, der Gauleiter-Helfer Dzubba aus Ostpreußen?

In Informationen über „Arisierungen“ und die Erich Koch Stiftung, was ich so recherchiert hatte, da hatte ich den Namen Dzubba eben schon mal gelesen. Und dann steht genau dieser Name in unserem privaten Familienalbum: „Ingrid, Tochter des Wirtschaftsprüfers Doktor Bruno Dzubba“.

Auf ‚youtube‘ gibt es einen Kanal, da stellt ein „Bruno Dzubba“ Videos ein, wie er mit dem Fahrrad von Freilassing nach Freising fährt oder so. Also der hat wohl mit unserer Sache nichts zu tun, denke ich.
Und dann bin ich auf eine Anzeige gestoßen auf der Hamburger „Go-local“-Plattform. Eine Anzeige von 2010: Antiquitätengeschäft Stefan A. Dzubba in der Rothenbaumchaussee. Aha, vielleicht ein anderer Verwandter. Eine Bewertung steht da drunter, das war interessant, da steht: -Schöne Antiquitäten aus ostpreußischen „Nachlässen“, Erich Koch-.

Nachlässe eben in Anführungsstrichen. Gauleiter Erich Koch?!  Wer hat das geschrieben? Der Name des Users in deutscher Schreibweise: Jad Wasch, also ähnlich wie Jad Vashem, das Holocaust Memorial…

Screenshot Plattform „Golocal“

Schließlich habe ich auch eine Todesanzeige von Doktor Bruno Dzubba in weiteren familiären Unterlagen unserer Familie gefunden und die Geburts- und Todesdaten mit Angaben aus einer der wissenschaftlichen Arbeiten über Gauleiter Koch verglichen. Die Daten waren identisch.
Darüber war in der Familie aber nie irgendetwas gesprochen worden.

KARTEIKARTE BRUNO DZUBBA

Henri Rösch: Es stellt sich etwas Heikles raus: Es gibt diesen Doktor Dzubba, diesen Verwandten, der relativ nahe an der Familie Dabinnus dran gewesen sein muss, zumindest was Korrespondenzen der Nachkriegs-Zeit überliefern, wo er ganz harmlos als „Bruno“ oder „Onkel Bruno“ auftaucht.
Er ist also erstens der Beauftragte von Gauleiter Koch und zweitens Verwandter der Familie Dabinnus. Da gehen natürlich Spekulationen los, weil Dzubba wird ja wohl kaum entgangen sein können, dass bei den „Bartensteiner Mühlenwerken“,  die so eine wirtschaftlich wichtige Rolle gespielt hatten, dass da vielleicht getäuscht werden sollte mit diesem angeblichen Rettungsversuch. Wenn das überhaupt so gewesen ist.  Dass seine Verwandten einen Komplott unternehmen, also das System, für das er mitverantwortlich ist, unterwandern? Das hieße ja, dass Dzubba eingeweiht werden musste? Musste man mit ihm reden darüber? Musste man ihm irgendetwas versprechen?  Handelte man vielleicht sogar in Komplizenschaft mit ihm, aus Zwang heraus oder freiwillig?

Stellt das nun die „Übernahme“ positiv dar oder im Gegenteil? Jedenfalls 1937 war die Mühle dann schon eine GmbH…

„Wir sind eine rein arische Gesellschaft und haben die Firma Isaak Meyer übernommen…“

Burchard Dabinnus: Ist auf einem Geschäftsbrief aus dem Jahr 1937 zu lesen. Im November 1938 brennt auch die Bartensteiner Synagoge. Ältere Mitglieder der Hitlerjugend sollen da beim Anzünden auch mit dabei gewesen sein. Auf Fotos aus dem Fotoalbum sieht man auch unseren Vater und seinen Bruder in HJ Uniform.

Henri Rösch: Wenn man jetzt die damalige junge Generation betrachtet, Heiko Dabinnus, mein Großvater -in der Hitlerjugend- 1938 brennt die Bartensteiner Synagoge, wo war euer Vater zu diesem Zeitpunkt?

Brigitte Meyer: Der ist in St. Gallen seit 1936. Da wurde er als Zwölfjähriger mit seinem Bruder Ludwig, damals neun Jahre, in das „Institut auf dem Rosenberg“ geschickt.

Billy Meyer: Das ist möglich geworden, weil mein Cousin, meine Cousine konnten im letzten Moment nach England, dann sind zwei Plätze frei geworden im Internat auf dem Rosenberg. Und dann haben unsere Großeltern entschieden, dass sie die Jungen in die Schweiz schicken.

Henri Rösch: 1938 kommen sie auch nochmal zu Besuch, die Eltern besuchen ihre Kinder….

Billy Meyer:
1938 besuchen sie ihre Kinder in St. Gallen. 1937 waren die Kinder in den Ferien auch noch mal in Bartenstein. Nach St. Gallen kamen sie eigentlich auch mit der Idee, sie könnten dort vielleicht ein Haus kaufen, damit sie dortbleiben konnten. Aber unser Großvater konnte Bartenstein nicht verlassen. Die Familie versuchte, ihn zu überreden, zu überzeugen, aber es ist ihr nicht gelungen.

Henri Rösch: Ebenso 1938, im Anschluss an die November-Pogrome, wird Paul Graetz, der Schwager, der auch in der Geschäftsführung der Mühlenwerke mitgewirkt hat, in Sachsenhausen inhaftiert. Kurz nach seiner Freilassung emigriert er zusammen mit seiner Frau nach London. Das muss für eure Großeltern in dem Moment ja auch eine große Frage aufgemacht haben? Warum sind sie geblieben?

Billy Meyer: Ich denke, weil unser Großvater war national, der hatte eine nationale Gesinnung, war kaisertreu, war im Ersten Weltkrieg, er konnte sich nicht vorstellen, dass das nicht so weitergeht, dass er das nicht überleben kann.

Brigitte Meyer: Seine Frau, also unsere Großmutter und unsere Großtante, und auch seine Mutter, die hatten die Realität besser eingeschätzt, sie versuchten nächtelang unseren Großvater davon zu überzeugen auszureisen. Ohne Erfolg.


Henri Rösch:
Manche aus der Familie wie Paul Graetz und seine Frau, fliehen, emigrieren, andere Mitglieder bleiben aus verschiedenen möglichen Gründen. Was war generell die Situation der Jüdinnen und Juden, die vielleicht versucht haben zu fliehen, aus Deutschland herauszukommen?

Christian Rohrer: Man konnte noch bis Oktober 41, jedenfalls theoretisch, das Deutsche Reich verlassen. 1941 gibt es einen Erlass vom Reichsführer SS Himmler, der diese Emigration praktisch unmöglich macht. Es war vorher schon sehr schwierig aus dem Reich raus zu kommen. Und wir müssen uns auch noch klarmachen, was das bedeutete, wenn man emigrierte. Man hatte vielleicht das Leben gerettet, was viel ist, aber ansonsten war man in aller Regel mittellos im neuen Land.  Es verblieb ja das Vermögen, das man eventuell hätte mitnehmen können durch die Bestimmungen im Deutschen Reich. Das heißt in einem neuen Land fing man tatsächlich bei null an. Deshalb sind auch einige Juden im Reich untergetaucht, sie nannten sich dann „U-Boote“.
Ein Teil von ihnen hat überlebt, ein Teil ist ermordet worden, manche haben versucht zu fliehen. Und was man nicht vergessen darf: Es gab auch sehr viele Suizide von Juden. Wir dürfen nicht nur an den Mittdreißiger denken, sondern auch an Leute zwischen 60 und 70, die nicht mehr die Kraft hatten, irgendwo ein neues Leben anzufangen, die teilweise auch gesehen haben, was passiert, und auch gehört haben was für entsetzliche Schilderungen man aus dem Osten hört, und es sich auf diesem Wege sozusagen erspart hatten, in die Todesmaschine der Nazis zu geraten.

Henri Rösch: Also die Kinder waren 1937 noch mal in Bartenstein, die Eltern kamen 1938 in die Schweiz, es gibt davor noch einen Silvesterabend…

Simone Bartels: Ich habe meinen Vater nach Billys Besuch  zu diesem Konsortium befragt, was da als gegründet worden sei, um die Mühlenwerke zu pachten ( Billy Meyer besuchte in den 2000er Jahren, den Sohn des Gutsbesitzers Dabinnus, Heiko, um etwas Genaueres über den Hergang der Übernahme der Mühle zu erfahren). Und da erzählte er, 1937 hätten die Familien Meyer und Dabinnus noch zusammen Silvester gefeiert.

Henri Rösch: Da scheint dann eine Freundschaft noch vorhanden gewesen zu sein? Trotzdem wir zu diesem Zeitpunkt ja schon sehr veränderte Besitzverhältnisse hatten bei den „Bartensteiner Mühlenwerke“.   1939 verändert sich die Situation der Mühle noch mal…

Burchard Dabinnus: …unser Großvater Georg Dabinnus übernimmt als alleiniger Inhaber 75 % der Anteile. Wer wohl die restlichen Anteile hatte?

Henri Rösch: Dzubba?

Burchard Dabinnus: Das wissen wir noch nicht…

Henri Rösch: Das Ehepaar Meyer ist zu dem Zeitpunkt noch in Bartenstein, wird dann aber gezwungen Bartenstein zu verlassen.

Billy Meyer: Sie sind dann nach Berlin in eine Zwangswohnung in der Sächsischen Straße 75 und über diese Zeit weiß ich nur, dass unser Großvater manchmal noch mal nach Bartenstein ging, zu den Geschäften herangezogen wurde, aber was er wirklich dort gemacht hat…

Burchard Dabinnus: Es gibt im Buch „Der Passfälscher“ von Cioma Schönhaus ein paar kurz geschilderte Begegnungen mit eurem Großvater.

Und es gibt diese Briefe eurer Großeltern an euren Vater und euren Onkel in die Schweiz, in das Internat.

AUDIO-  ZITAT BRIEF (An die Söhne Werner und Ludwig)

 Eine scheinbare Normalität. Die Eltern fragen nach Hausaufgaben, ob die Kinder gesund sind und richtig essen und schlafen. Im Hintergrund die Angst wahrscheinlich. Zwischendurch in den Zeilen ein paar Andeutungen über Ausreisen von Verwandten und Bekannten, Visafragen und Verabschiedungen.

Billy Meyer: Ich habe die Original-Briefe noch nicht gesehen, die Briefe wurden ausschnittsweise transkribiert von Ludwig, also vom Bruder unseres Vaters, und ich weiß nicht, ob die Großeltern nicht doch mehr geschrieben haben, wie es ihnen ergangen ist oder wie es ihnen geht. Dass mein Onkel Ludwig, der letztes Jahr mit über 95 gestorben ist, nicht einfach das, wo es um ihn und um Werner ging, herausgeschrieben hat aber die restlichen Punkte, das war ihm zu schmerzhaft, damit wollte er nicht noch mal konfrontiert werden mit diesen Punkten. Das kann ich mir gut vorstellen, ich weiß es nicht.

Brigitte Meyer:
Interessant ist, dass es beide Seiten von den Briefen gibt, unser Onkel und unser Vater hatten sie teilweise mit Durchschlag getippt und die Durchschläge der Briefe sind auch erhalten.
Es gibt noch viel Material…

Henri Rösch: Wir kommen noch mal kurz auf die gesamtpolitische Lage zurück, weil die sich natürlich in diesen Jahren extrem zuspitzt, vor allem für Jüdinnen und Juden.

Screenshot a. Dokumentarfilm.

Christian Rohrer:   Die Bevölkerung im Reich hat sich ja bis zum Kriegsende vielleicht von der Partei, aber nicht vom Führer abgewendet, auch die Propaganda lief durch bis Kriegsende und das „Dritte Reich“ musste von außen in die Knie gezwungen werden. Das ist nicht von innen gestürzt worden. Und man kann sagen, dass mit dem Kriegseintritt der USA, im Dezember 1941, der Krieg strategisch entschieden wurde. Und in dieser langen Zeit bis zum Kriegsende 1945, da wurde der Holocaust von den Nazis ins Werk gesetzt. Die Jahre 1942/43 bringen die Kriegswende. Das Deutsche Reich gerät an allen Fronten unter Druck. Stalingrad im Januar/Februar 1943 symbolisiert gewissermaßen die Wende. Eine wichtige Weichenstellung war 1943 auch, als die Alliierten beschlossen haben, den Bombenkrieg in den großen und mittleren Städten zu maximieren, zu intensivieren, mit der Idee die Durchhaltekraft, den Widerstandswillen der Bevölkerung zu brechen.


Burchard Dabinnus:
Wenn man die alten Familien-Fotoalben anschaut, man weiß es nicht genau, was in der Familie gedacht wurde, wir wissen es nicht, man sieht nur so ein paar Fotos aus dieser Zeit. Zum Beispiel als sich das Ehepaar Meyer schon in Berlin als Untermieter in einem Zimmer zusammendrängt, sitzt die Familie Dabinnus im Wohnzimmer neben dem Weihnachtsbaum oder im Garten oder Mutter und Sohn am Schlossteich in Königsberg, an einem Kaffeetisch. Der Sohn Heiko, 18jährig in Uniform des Reicharbeitsdienstes, am Arm die Hakenkreuzbinde. Und unter einem anderen späteren Bild steht, dass Heiko gerade vom Fronturlaub, vom Einsatz an der Ostfront zur Geburtstagsfeier seiner Mutter zuhause ist. Man möchte die Familienmitglieder auf den Fotos fragen: Was habt ihr gefühlt, was habt ihr gedacht damals…?

Henri Rösch: In der Zwischenzeit hat sich der Krieg so weit ausgebreitet, dass eigentlich alle Männer an der Front sind und die „Bartensteiner Mühlenwerke“ können nur mit französischen Kriegsgefangenen weiterarbeiten, unter diesen neuen Besitzverhältnissen, unter diesen neuen kriegswirtschaftlichen, politischen Verhältnissen.
Die Lage der in Berlin noch lebenden Jüdinnen und Juden wird immer prekärer…

Christian Rohrer: Um 1939 lebten in Berlin 75.000 Juden. 1941 starteten die Deportationen aus Berlin und gingen ungefähr bis Anfang 1943.
Und es werden circa 55.000 Berliner Juden oder als Juden eingestufte Menschen -was nicht das gleiche war- deportiert in den Osten. Die allermeisten kamen in Lager und wurden dort ermordet. Ein kleiner Teil, ungefähr 5000-7000, tauchten in Berlin unter. Davon überlebten 1500 bis zum Kriegsende. Dabei muss man bedenken, das sind deutsche Staatsbürger unter deutschen Staatsbürgern, wenn sie den Judenstern abgelegt haben, sind sie zunächst nicht als Juden zu erkennen. Aber sie befinden sich quasi in Feindesland, in einem Haifischbecken, das heißt, sie brauchen ständige Unterstützung durch andere Juden, durch Netzwerke im Untergrund. Sie können kontrolliert werden, wenn sie am Tag vielleicht außer Haus gehen, man konnte sie in der Wohnung entdecken. Kurzum, diese untergetauchten Juden lebten in ständiger Todesangst.

Burchard Dabinnus
: Es gibt diese Transport-Listen im Arolsen-Archiv, wo eure Großeltern aufgeführt sind, Juni 1943…

Deprortationsliste mit Namen von Hans und Lotte Meyer. Quelle Arolsen Archiv.

Henri Rösch: Weil wir da zwei Auflistungen gefunden haben. Auf der einen -Transport nach Auschwitz- da stehen die Namen beide drauf, wurden aber mit rotem Strich durchgestrichen. Auf der zweiten -Transport nach Theresienstadt- gibt es neben den Namen eine kleine Notiz, die ist schwer zu lesen…

Burchard Dabinnus: Das Ehepaar Meyer ist da aufgeführt und auf der zweiten Liste bei Meyer, Hans Joseph Israel, steht „Abwickler für den Herrn Regierungspräsidenten in Königsberg“. Was das heißen mag. Irgendwer hat interveniert ?

 

AUDIO- ZITAT PAUL GRAETZ

Burchard Dabinnus: Die Situation muss man sich vorstellen….

Henri Rösch: Er wird aus dem  Konzentrationslager, Vernichtungslager Ausschwitz, in dem zu diesem Zeitpunkt schon hunderte, tausende Menschen ermordet wurden mit dem Auto oder einem anderen Transportmittel und Bewachern zurückgebracht zur Mühlenanlage. Das ist keine kurze Distanz, einige Stunden Fahrt, und er kommt dann in Bartenstein an bei der Mühle, die eigentlich noch seine sein sollte. Auf wen trifft er dort in diesem Moment, auf den neuen Besitzer, Georg Dabinnus?
Ehemaliger Freund oder Noch-Freund.

Burchard Dabinnus: Unser Großvater und euer Großvater geben sich die Hand…

Henri Rösch: Hans Joseph Meyer bleibt über Nacht, sieht sich die Geschäftsbücher an, oder gibt wirtschaftliche, organisatorische Ratschläge man gibt sich nochmal die Hand, und dann fährt dieses Auto wieder zurück ins KZ?!

Burchard Dabinnus: Wir fantasieren natürlich jetzt… Jetzt gibt es aus Theresienstadt noch eine letzte Postkarte. Es war ja oft so, dass die Juden sogar angehalten wurden, aus Theresienstadt zu schreiben, das diente ja auch der Propaganda sozusagen.

AUDIO- ZITAT POSTKARTE THERESIENSTADT

 

Dokument aus dem Arolsen-Archiv: Fahrkarte für Dr. Hans Joseph Meyer von Theresienstadt nach Auschwitz (PFD) 

Burchard Dabinnus:  Im Herbst 44 war die Deportation nach Ausschwitz. Und es gibt noch ein Zitat von meinem Großvater, dass er in einer Erklärung, in einem anderen Zusammenhang schreibt er:

„Ich war auch mit einem der früheren Inhaber der Firma Meyer befreundet. Es war Doktor Hans Meyer, der in Ausschwitz vergast wurde“.

Collage: Marlene Rösch, Malerei: Brigitte Meyer, Fotos Privat

 

(Musik:  Brigitte Meyer und Ardhi Engl. Thema: das alte Volkslied „Ännchen von Tharau“)


4- offenes Podiumsgespräch am 25.2.23 (Transkription)

Vor dem Gespräch lesen die Sprecher der Performance eine Liste vor mit den Namen der Opfer aus den Familie Meyer und Abend.  Familien beider Elternteile von Billy und Brigitte Meyer (PDF-Liste Opfer a.d. Familien Meyer und Abend)  bzw. Anfang Video Familienangelegenheiten)

NACHTRAG AUS AKTUELLEM GRUND:                                                    Nach dem 7. Oktober 23, kurz vor der Premiere der Theaterfassung der „Mühlengeschichte“ erhielt diese Liste aus der Vergangenheit beispielhaft eine grauenvolle Fortschreibung in der Gegenwart, in dem wieder eine „Massenvernnichtung“, ein Pogrom geschah. In dem Land, das jüdischen Menschen als Schutz vor Angriffen und Verfolungen dienen sollte, mußten nach dem Gemetzel der Hamas neue lange Opferlisten geschrieben werden und alle Hoffnungen auf eine irgendwie friedliche Lösung bestehender Konflikte muß für lange Zeit begraben werden.

(Musikintermezzo, längere Stille)

Burchard Dabinnus: …ja… und da sitzen wir jetzt hier, im Schatten von alldem.

Wir, aus beiden Familien…jetzt geht es mir auch durch mit den Nerven…  Wir, aus der Familie, die das irgendwie doch zugelassen haben, das System zugelassen haben, auch wenn sie vielleicht versucht haben irgendetwas gegenzusteuern, etwas wieder aufzuhalten, aber nachdem das ja schon alles lief…

…und wie hat Hedi Fried  geschrieben- dann konnte man nichts mehr machen-

Das heißt, das System hatte eine unglaubliche Effizienz, wie Christian Rohrer vorhin gesagt hat. Und als es dann am Laufen war, dann gab es kaum eine Möglichkeit mehr, etwas aufzuhalten, das hätte man nur ganz am Anfang der Dreißigerjahre machen können.

….und jetzt sitzen wir hier auch mit den Familienmitgliedern, die es nicht mehr gibt, und uns, die es gibt und die darüber nachdenken und versuchen Puzzlesteine aus dieser Geschichte zusammen zu legen….

…und auch das, was heute ist, und das, was wir sehen, wenn man in die Medien schaut, was für Hass und Hetze heraus sticht, wo die Geister von Gestern genauso wieder spuken wie damals in der finstersten Zeit, es werden die gleichen Worte verwendet! Und was machen wir da, was tun wir damit?

Und wie kommt jetzt diese Familiensituation überhaupt zu Stande? Das ist ja sehr eigentümlich, wirklich vielleicht sogar einmalig in dieser Form. Wir sind zwei Geschwister und da sind zwei Geschwister.

Und wir sitzen hier zusammen und unsere Großeltern saßen auch schon zusammen. Und jetzt überlegen wir hier und denken darüber nach. Und fühlen uns auf irgendeine Weise auch sehr verbunden, ja.

Verbundenheit, obwohl wir uns ja gar nicht so richtig kennen, mal vor Jahren getroffen haben, ab und dann einmal voneinander gehört haben.

Diese Geschichte, wie ist das überhaupt zu Stande gekommen, dieser Kontakt, dass wir hier zusammensitzen?

Billy Meyer:
(zum Publikum) Erst möchte ich euch ganz herzlich danken, dass ihr alle da seid. Und euch für unsere Geschichte interessiert… (Applaus) Danke …mich überkommt es dann manchmal auch und ich lasse das dann einfach durch meinen Körper steuern.
Und ich akzeptiere das, das ist ein Teil dieses Schmerzkörpers, mit dem ich einfach lebe, der mich aber nicht behindert, Freude am Leben zu haben.

Wie ist es überhaupt gekommen, dass ich Burchard kennen gelernt habe? Das hat mit Joachim Schröder zu tun. Joachim Schröders Vater ist der Nachfolger unseres Großvaters als Geschäftsführer in der Mühle. Er wurde 1939 eingesetzt, anstatt unseres Großvaters.

Und Joachim hat sich mit der Familiengeschichte auseinandergesetzt und hat nach einer therapeutischen Intervention gemerkt, er muss Kontakt aufnehmen mit dieser Meyer-Familie. Und hat dann 1999/2000 unserem Vater einen Brief geschrieben und unser Vater hat diesen Brief an mich weitergegeben, nicht wortlos, aber er hat gesagt: „Billy, ich hab‘ da was für dich“. Weil er wusste, dass ich mich mit dieser Geschichte auseinandersetze.
Er hat sich selbst nicht dagegen gesperrt, aber er war schon sehr krank und er wollte nicht noch mal diese Büchse aufmachen und hat das dann mir gegeben und ich habe mit Joachim Kontakt aufgenommen. Wir wurden befreundet, haben auch zusammen Ostpreußen besucht. Und Joachim hat mir erzählt: „Da gab es irgendeine Familie Dabinnus, die haben -glaube ich- versucht, die Mühle zu retten oder so“.
Und so hab‘ ich dann Kontakt aufgenommen.

Burchard Dabinnus: Es gibt auch ein paar Kommunikations-Spuren zwischen den Familien nach dem Krieg: Der Kontakt vom emigrierten Paul Graetz aus London zu unserem Großvater. Da ging es auch um die „Mühlengeschichte“. Die waren da relativ viel in Kontakt und die trafen sich oft öfters nach dem Krieg in Hamburg. Aber auch „Onkel“ Bruno (Dzubba) war da im Umkreis der Familie Dabinnus (s. zeitgeschichtlicher 1.Teil des Gespräches).
Das ist eine merkwürdige Dialektik. Es gibt kleine Zettel-Botschaften, auch aus dieser Zeit nach dem Krieg aus einzelnen Briefen, wo plötzlich -ganz verschämt fast- so eine Bemerkung aufblitzt. Da schreibt jemand aus Stuttgart an meinen Großvater in Bad Segeberg: „Den Kindern von Doktor Meyer in der Schweiz geht es gut“. Nur dieses kleine Sätzchen. Oder mein Großvater schreibt an meinen Vater- da hat ihm wahrscheinlich Paul Graetz davon berichtet: „Die Söhne von Doktor Meyer machen in Basel gute Fortschritte“.
Oder: Mein Vater erkundigt sich in einem anderen Brief direkt nach dem Krieg bei einer Jugendliebe, der Freundin Lieselotte Dreyfeldt, die in München Kontakte hatte, nach der Adresse einer „Theresienstadt-Heimkehrerin“  Erna Stremlow (PDF a. Münchener Gedenkbuch). Erna Sremlow hatte in München ihre Wohnung wieder bezogen und war in den 1940er Jahren die Zimmerwirtin der Chemie-Studentin Lilo Dreyfeldt  gewesen.
Also, es gibt so kleine Echolot-Signale.

Billy Meyer: Auch über therapeutische Prozesse war mir ganz klar, ich möchte nicht in der Fantasie bleiben, die Realität muss ich wissen. Das war für mich dann auch wichtig, dass ich Burchard getroffen habe und so noch mehr Versatzstücke dieser Realität mitbekommen habe.

Henri Rösch: In der Uni gab es vor zwei Jahren ein Seminar: „Journalistisches Schreiben für Historiker“. Da gab es eine Übung dazu, ich studiere „Public History“. Ich war da ja auch nahe dran an dem Thema.

Es gibt da einen Moment, mit dem ich beginne in dem Text, weil dieser Moment ist sozusagen für mich ein „Reentry“ in die Vergangenheit, wo es einen Anschlusspunkt gibt an meine Gegenwart: Das war dein (Billy Meyers) Besuch im Haus meiner Großeltern (Dabinnus).

Ich wusste damals noch gar nicht so viel. Ich habe mich danach auch mit Joachim (Joachim Schröder) online getroffen. Das Bild war dann für mich, wie du (Billy Meyer) da bei meinen Großeltern die Gartentür aufmachst, diese Treppen hochgehst, in das Haus kommst, auf meine Großeltern triffst.

Billy Meyer: Und ich wurde empfangen, unglaublich. Von deinen Großeltern, euren Eltern.

Burchard Dabinnus: Aber trotzdem wurden die Fragen nicht geklärt.

Billy Meyer(lacht): Die Fragen wurden nicht geklärt. (Lachen im Publikum)
Es stand ein Riesen-Kuchen auf dem Tisch.
Ich hab gemerkt, wie viel Gefühl drin ist, es war wirklich sehr…

 

 

Simone Bartels: Ich hab das nur aus der Ferne mitgekriegt, durch ein Telefon-Gespräch mit unserer Mutter, dass du kommst und dass es eine unglaubliche Aufregung war, also bei meiner Mutter. Mein Vater sprach ja nicht viel. Als du wieder weg warst, haben wir wieder telefoniert und es muss ein immenser, zentnerschwerer Sack von ihr gefallen sein. Sie konnte das selber nicht definieren, sie war befreit, fühlte sich befreit und diese Last war wohl…

Burchard Dabinnus:
Was ich erinnern kann von deinem Besuch, wie du -fast etwas plötzlich- sehr engagiert unseren Vater gefragt hast: „Wie hat denn dieser Georg (Gutsbesitzer Georg Dabinnus) meinem Großvater geholfen, damals? Ich hätte gern ein paar Fakten“. Und dann war aber großes Schweigen und der Mann vom Bundesnachrichtendienst, der Vater, sagte nichts.
Ich selber hatte zu dem Zeitpunkt überhaupt keine Ahnung, was im Hintergrund des Besuches überhaupt für eine Thematik, Problematik stand.

Ich habe nur gewusst: Da kommt der Enkel eines früheren Nachbarn aus Ostpreußen. Das habe ich selber erstmal unter „Heimatpostille“ abgeheftet.

Später auf der Kassette, die meine Schwester aufgenommen hat und von der wir gerade einen Abschnitt vorgespielt haben, da hat er durchaus eine längere Kolportage abgegeben, zu deinen Fragen, Billy.

Henri Rösch: Aber das ist das Einzige…

Burchard Dabinnus: …ja, das ist das Einzige…

Henri Rösch: …zu seiner Erinnerung.

Simone Bartels: Explizit habe ich ihn ja danach gefragt.

Brigitte Meyer: Was war euer Vater für ein Jahrgang?

Simone Bartels: 1921.

Brigitte Meyer: 1921, also drei Jahre älter als unser Vater. Wir dürfen nicht vergessen, das waren Kinder, oder? Das waren wirklich Kinder.

Im Leben unseres Vaters gibt es diesen Bruch durch diese erzwungene Emigration. Und dann rutscht das alles in die Erinnerung und in Bilder, er hat die Kindheitserinnerungen und Gefühle eingefroren.
Mit 12 oder 13 Jahren war unser Vater zum Beispiel noch viel zu jung, um zu ermessen, was diese Mühlenwerke beispielsweise für eine Bedeutung hatten. Als Erwachsener hätte er das vielleicht anders schildern können.
Und euer Vater vielleicht auch.

Burchard Dabinnus: Ja sicher…Unser Vater war aber später -glaube ich- relativ gut informiert, was die „Mühlengeschichte“ anbelangt. In Nachkriegs-Briefen meines Großvaters an meinen Vater kommt immer wieder vor: „Nichts Neues von der Mühle“, „In der Mühlengeschichte nichts Neues“. Daher habe ich überhaupt diesen Begriff. Und immer wieder wird auch Dr. Graetz erwähnt in London: „Dr.Graetz lässt dich herzlich grüßen“. „Dr. Graetz hat mich nach London eingeladen“. Mein Vater wird auch immer instruiert, bekommt Aufgaben, arbeitet bei den Anträgen zum „Lastenausgleich“ mit. Es gibt diesen sogenannten „Lastenausgleich“. Was steht da in den Akten drin? Das ist ein anderes Kapitel, was wir noch erforschen wollen. Wo es dann vielleicht auch Aufklärung darüber gibt, wer hatte denn diese restlichen 25% Anteile an der Mühle, als mein Großvater die Anlage übernahm?
Wie viel Geld wurde für die Mühle bei der „Arisierung“ überhaupt von wem an wen bezahlt?

Es gibt ja auch andere Akten, da hat euer Vater (Werner Meyer) beispielsweise und auch andere überlebende Familienmitglieder jeweils Anträge eingereicht, dass sie eine Entschädigung für eine „Verschleuderung“ des Besitzes beanspruchen, (in dieser Interpretation: Die Mühle musste für einen Schleuderpreis verkauft werden)

Auf der anderen Seite gibt es von meinem Großvater eine Liste -rückblickend in einem Brief notiert- wo es um an verschiedene Konten überwiesene Beträge geht.
Da geht es um relativ hohe Beträge, auch auf das Konto Meyer. Aber was das bedeutet, wann das genau war und auf welcher Grundlage…also es bleibt spannend, wir finden es noch raus!

Aber abgesehen davon ist das für mich… und vielleicht ist es für Simone nochmal was anderes… weil wir von der Seite kommen, die das alles ja irgendwie mit verursacht hat… vielleicht nicht unbedingt willentlich, sondern „nur“ weil sie nicht richtig hingeguckt haben? Ja was ist das? Etwas Unfassbares… ein Gefühl von Schuld natürlich.
Auch von Angst, jetzt etwas Falsches zu formulieren. Irgendwas zu sagen, was man nicht darf, was einem nicht zusteht. Weil man von der Täter-Seite kommt. Angst, die jetzt ein bisschen von mir abfällt, da ihr da seid und wir so einen offenen Kontakt haben.

In der „Jüdischen Allgemeinen“ gab es einen Artikel, den ich neulich durch Zufall im Netz gelesen habe, da hieß es sinngemäß: „Deutschland hat eine „Gedenk-Industrie“. Für das „kleine Gedenken zwischendurch“. Da kann man immer mal einen 27. Januar haben. Wo man dann sagt: „Ja wir haben das alles verursacht und jetzt gedenken wir mal ein bisschen und so weiter“. Irgendwas ist da natürlich auch dran.

Simone Bartels: Ich bin ja in die Geschichte hineingeworfen. Mein Bruder recherchiert schon seit Jahren. Ich bin etwas außen vor.
Und was mich sehr hier … jetzt erwischt es mich auch… umwirft, das ist schon die Frage der Schuld. Haben wir jetzt als Nachgeborene Schuld, wo stehen wir?
Natürlich will ich, dass sie gut waren (die Großeltern). Oder…ich bin aber ratlos.

Henri Rösch:  Man steht da so oft dazwischen, also dieses Bedürfnis, dass sie das eine oder das andere gewesen sind. Täter oder dagegen.
Und ganz viel von dem, was wir heute gehört haben, zeigt ja auch, dass es ganz viele Grautöne gab und dass sich natürlich als Familienmitglied das Gefühl in den Vordergrund drängt: „Sag, mir dass es nicht so war. Sag mir, dass die guten Geschichten stimmen, dass man halt versucht hat, in diesem System irgendwie zurechtzukommen“.
Gleichzeitig gibt es eben diese vielen Grautöne, die es auch nicht unmöglich machen, dass diese Freundschaft (zwischen den Familien Meyer und Dabinnus) da war, dass dieser Versuch da war, die Mühle wirklich zu retten. Weil man vielleicht ja auch 1937 de facto noch nicht absehen konnte, wo entwickelt es sich hin?
Auf der anderen Seite steht aber trotzdem die Tatsache, dass man das dann besessen hat (die Mühlenwerke), dass man davon vielleicht profitiert hat wirtschaftlich? Das eine schließt das andere nicht aus.
Das zumindest ist für mich eine sehr wichtige Wahrheit.

Christian Rohrer: Den Mut nicht sinken lassen- wie du gesagt hast, es gibt eben Grautöne. Nur eine allgemeine Anmerkung:  Das war auch sicher eine gewisse Fehlentwicklung der Forschung, auch die Art, wie die Forschung rezipiert wurde, dass man sozusagen eine Art Einbahnstraßen-Argumentation hat, dass man aus diesen Nazis Monster gemacht hat, was sie auch sehr weit weg von einem selber entfernt hat!
Aber es gibt eben viele Grautöne und es gibt eben auch viele, die waren Täter und Opfer zugleich, was das Ganze aber auch näher an uns heran führt. Das Ganze wird nicht mehr so monströs, sondern wir überlegen uns, wo sind unsere Handlungsspielräume?

Burchard Dabinnus: Wer wären wir gewesen, geworden, wenn wir zu dieser Zeit geboren wären? Ich weiß es nicht genau…?!

Christian Rohrer: Menschen verändern sich über die Zeit.                   Das könnte am Ende tatsächlich so eine Ironie dieser Geschichte werden, dass der szenische Einsteiger (die kurze Theater-Performance im Vorspann des Abends),  dass das am Ende Realität sein wird, dass die Familie Dabinnus vielleicht tatsächlich versucht hat diese Mühle freundschaftlich zu übernehmen? Diese Fälle gab es, nicht häufig aber es gab sie.

Es gab unterschiedliche Arten von „Arisierungen“: Es gab absolut skrupellose Profiteure, die sich über das Gesetz, sogar das Nazigesetz noch, hinweggesetzt haben, um ihren Schnitt zu machen. Vielleicht der größte Teil der „Arisierungen“ liefen nach dem „Recht“ formal korrekt ab. Da wurde der Profit gemacht durch die Minderbewertung der Firmen. Dadurch, dass die Gewinnaussichten nicht berücksichtigt wurden.
Aber dann gab es auch „Arisierungen“, die wurden -man spricht vom „ehrbaren Kaufmann“- nach dessen Grundsätzen gemacht. Und von denen wiederum gibt es einen kleinen Teil, in dem es tatsächlich diese Konstruktion gab: Die Familien sind befreundet: „Wir kaufen euch den Betrieb ab. Wenn der Spuk vorbei ist, dann geben wir euch den wieder zurück“. Das sind nicht viele Fälle, aber es gab sie.

Burchard Dabinnus: Zum Thema „Arisierungen“ noch ein Zitat aus dem Buch „Die Juden in Deutschland 1933-44″: Ein Geschäftsmann, der selber Nationalsozialist war:
„ (…) Ich bin von all diesen Erpressungen an den Juden derart angeekelt, dass ich von nun an jede Tätigkeit bei den Arisierungen ablehne. Obwohl mir dabei ein guter Verdienst entgeht. Ich bin Nationalsozialist, SA-Mann und ein Bewunderer Adolf Hitlers. Aber kann als alter rechtschaffener, ehrlicher Kaufmann nicht mehr zusehen, in welcher schamlosen Weise von vielen arischen Geschäftsleuten, Unternehmern etc. versucht wird, unter der Flagge der Arisierung und im Interesse der nationalsozialistischen  Wirtschaft, die jüdischen Geschäfte, Fabriken etc. um einen Schundpreis zu erraffen. Die Leute kommen mir vor, wie die Aasgeier, die sich mit hervortretenden Augen und heraushängenden Zungen auf den jüdischen Kadaver stürzen, um ein möglichst großes Stück Fleisch heraus zu reißen“.

Brigitte Meyer: Interessant…

Burchard Dabinnus:
…. zu den Grautönen..

Brigitte Meyer: Und wann ist das circa, von wann ist das Zitat?

Burchard Dabinnus: Das muss Mitte der 1930er Jahre sein…         Gibt es Fragen eigentlich? Wir hatten ja auch versprochen, dass wir Fragen beantworten…

Besucher: Also ich bin beeindruckt und auch berührt, weil es ist auch sehr emotional, deswegen ist vielleicht die Frage jetzt ein bisschen technisch: Sie sprachen vom „Lastenausgleich“ und es gibt ja auch eine Rückerstattung, Wiedergutmachung, wobei das Wiedergutmachen… ja also…
Es gab Kontakte zwischen Ihrer Familie und Ihrer Familie in dem Zusammenhang?

Burchard Dabinnus: Ja eben, die gab es…1962 wurde ein (von heute aus gesehen merkwürdiges) Gesetz beschlossen, der sogenannte  „Arisierer Paragraf“, das heißt,  es können auch die Inhaber von ehemals jüdischen Geschäften, die aber dieses Geschäft wieder verloren haben oder zurückgeben mußten, dafür einen Schadensersatz beantragen, unter der Voraussetzung, dass dieses Geschäft nicht „sittenwidrig“ erworben wurde, wobei der Begriff „sittenwidrig“ weit auszulegen sei! So steht das da sinngemäß.

Ein paar Jahre früher wurde der „Lastenausgleich“ auch für jüdische, enteignete Geschäftsinhaber geöffnet.

Im Briefverkehr deutet sich an, dass Paul Graetz und mein Großvater versucht haben, etwas zusammen zu beantragen,
wobei es dann natürlich auch Differenzen gab.

Besucher: Aber wenn man die Akten finden würde, dann könnte man die „Schutz-Arisierung“ nachweisen…

Burchard Dabinnus:
Dann könnte man vielleicht zumindest Anhaltspunkte finden zu den gezahlten Beträgen…

Besucherin: Könnt ihr nochmal erklären, wer Paul Graetz war?


Burchard Dabinnus:
Paul Graetz war ein Mitglied der Familie Meyer, kam ursprünglich aus Braunschweig und heiratete in die Familie Meyer und wurde dann dort auch Mitinhaber bei der Mühle.

Billy Meyer:
Er schickte seine Kinder nach England, die sollten zuerst eigentlich nach St. Gallen ins Internat. Als die Plätze wieder frei wurden,
konnten unser Vater und sein Bruder dann nach St. Gallen.

Burchard Dabinnus: Da gibt’s dann auch noch die irre Geschichte, dass die Graetz-Tochter Anneliese -nach dem Krieg in London- Hanns Alexander geheiratet hat. Der war in die British Army eingetreten und hat 1946 Rudolf Höß ausfindig gemacht, den Kommandanten von Ausschwitz, im Versteck bei Flensburg, und festgenommen. Gibt es auch ein Buch von Thomas Harding: Hanns und Rudolf.

Besucherin (Andrea A.): Ich wollte mich sehr bedanken bei allen Beteiligten, dass Sie das möglich machen. Das ist so ein wichtiges Thema und es wird alles totgeschwiegen. Ich bin selber Nachfahrin von Holocaust Opfern und ich wollte jetzt Meyers fragen, wie sie mit diesem Trauma eigentlich leben?

Brigitte Meyer: Erstaunlich gut, vielleicht auch, weil ich die Kunst habe (Brigitte Meyer ist auch als Musikerin und Malerin aktiv, ebenso in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ehrenamtlich engagiert, sie war auch Gleichstellungsbeauftragte). Ich habe mich irgendwann damit auseinandergesetzt, wir haben ja die Mutter, die zu den gedemütigten Opfern zählte ( Ilse Abend aus Berlin überlebte verschiedene Lager, zuletzt Stutthof). Und sie hat, im Gegensatz zu unserem Vater, sehr viel erzählt, als ich junge Erwachsene war, und das half ganz bestimmt. Also ja…und ich hatte dann im Laufe meines Lebens auch noch andere Themen, die zu bearbeiten waren. Meine Taktik war so scheibchenweise damit umzugehen. Ich habe Glück gehabt, ich habe ein sehr positives Naturell!
(lacht, Applaus)

Billy Meyer: Ich glaube, ich hab es ganz anders gemacht: Mein Schlüssel war, dass ich meine eigenen Traumata angeschaut habe. Ich habe therapeutisch versucht die Traumata meiner Eltern aufzulösen, aber habe mich dabei vergessen. Als ich dann angefangen habe meine Traumata (seit Zeugung und Geburt) aufzuarbeiten, es gibt immer wieder Versatzstücke – die kommen auch in der Therapie- und mich dem zu stellen, das zu transformieren, oder zu erfassen und dann zu transformieren als Ressource, da wurde ich gesund, da wurden meine gesunden Anteile größer.
Ich konnte wirklich beginnen zu lieben aus mir. Das war für mich der Schlüssel. (Applaus)

Besucherin (Monika S.): Ja, ich wollte mich auch noch mal bedanken, ich fand das sehr, sehr gut. Wir sind in die Pause rausgegangen und wir haben gleich angefangen zu erzählen, was wissen wir von unseren Eltern und Großeltern? Bei mir war es zum Beispiel so, dass die Familie total gespalten war, die einen waren Mitläufer und die anderen waren sehr stark dagegen. Ich glaube Scham, Schuld, diese ganzen Gefühle, die kennen alle, die nicht auf der Opfer-Seite sind, und zugleich aber auch diese unglaubliche Trauer. Als ich jetzt gehört habe, von den Großeltern, anderen Verwandten, die da in der Familie verstorben sind…

Was ich da wichtig fand oder schön fand, also diese Trauer kann wirklich geteilt werden. Und meiner Meinung geht es nicht mehr darum, ob mir da irgendjemand eine Absolution gibt, geben kann, natürlich nicht. Also das ist passiert und ich hab mich gefragt, ob wir diese Gefühle jetzt auch so lassen können und sollen mit ihnen leben.
Vor allem halte ich die Frage für wichtig: Was heißt denn das alles für jetzt? Und ich merke zum Beispiel schon, dass wir in Deutschland immer stärker in einer Gesellschaft sind, wo man sich oft nicht mehr traut, etwas zu sagen, Angst hat, obwohl ja gar keine…
Und da denke ich mir schon: Ja, wie wäre denn das heute mit den Mitläufern? Das ist gar nicht die Frage, wo ich herkomme, sondern die Frage, wie viel Mut hätte ich denn oder erkenne ich so etwas? Wenn das jetzt wieder losgeht. Und ich halte es schon für möglich. Ich halte jetzt wieder alles für möglich. Mein Wunsch wäre, dass wir verstehen, welche Mentalität dazu führt. Und wo wir da jetzt stehen als Einzelner und als Gesellschaft.

Buchard Dabinnus: Da gibt es noch was aus dem Publikum, das als unmittelbares Erlebnis da ganz gut dazu passt:

Besucherin (Andrea A.): Ich war bei einem Tanzworkshop und habe ein paar Übungen gemacht mit einer anderen Frau und hatte den Stern (Davidstern) um an einer Halskette. Ich bin katholisch aufgewachsen, aber die Familiengeschichte… und die Frau sieht den Stern an der Kette und fragt mich: „Ah, bist du jüdisch?!“ Und ich sage: „Ja ich bin Nachfahrin von Holocaust-Opfern“. Und sie sagt: „Interessant, mein Großvater hat diese Transporte gefahren, die Züge“. Und da war die gemeinsame Übung aus, es ging nicht weiter mit der Übung.
Es ging überhaupt nicht weiter.  Und ich habe gedacht, die hat das einfach so dahingesagt, so wie – ja, ihr Großvater ist auch Zahnarzt-. Und ja, sie hat sich wahrscheinlich noch nie damit beschäftigt. Deswegen ist diese Arbeit, die ihr macht, so wahnsinnig wichtig.
*
Billy Meyer: Ich möchte noch kurz etwas anmerken zum Thema Schuld: Ich kann in keinster Weise von euch (Burchard D., Simone B.) erwarten, dass ihr irgendwelche Schuldgefühle habt. Was ich aber von euch erwarte -und das erfüllt ihr auch- ist, dass ihr euch der Realität stellt.

Zufallsfoto, gesehen in München-Pasing

Henri Rösch: Daran würde ich jetzt ganz gerne anknüpfen. Denn das war auch so mein Trigger, mich mit der Geschichte auseinander zu setzen, den Text zu schreiben, vielleicht auch hier zu sein.  Denn ich kann mich erinnern, dass in dieser Zeit vor zwei Jahren, eine Diskussion aufkam, das haben vielleicht die älteren Semester nicht so mitbekommen:   Zwei Personen aus dem postmigrantischen Milieu haben sich für so einen Instagram-Talk gemeldet über das Erbe dieses Holocaust-Gedenkens in Deutschland. Was das mit ihnen macht als Menschen, die einen Hintergrund haben, der damit überhaupt nichts zu tun hat. Und die haben dann ganz polemisch -und das wiederum wurde dann in den Feuilletons aufgegriffen- versucht etwas umzudrehen: Nämlich haben sie gesagt, wir wollen nicht mehr „Menschen mit Migrationsgeschichte“ genannt werden, sondern wir wollen euch „Menschen mit Nazi-Hintergrund“ nennen. Das war bewusst polemisch. Das ist auch entsprechend aufgeschlagen. Aber ein Grundgedanke darin, den fand ich extrem interessant! Dass ihre Kritik ist: Es gibt ein öffentliches Gedenken in Deutschland, und du (Christian Rohrer) hast es auch gerade beschrieben, dass es am Anfang diese Form von Dämonisierung gab, so eine bestimmte Täter-Klasse schuldig gesprochen wurde, die Gesetzgebung hat dann das ihrige getan durch Amnestie-Gesetze etc. So war die große Masse irgendwie halt entschuldigt. Aber das ganz viel von dem, was in diesen zwölf Jahren passiert ist, in den Nachfolgejahrzehnten ja immer noch da war, nicht nur die Enteignungen, „Arisierungen“ sondern auch der ganze Schmuck, der geklaut wurde, der irgendwo zur Ramschpreisen verkauft wurde, der jetzt noch im Wohnzimmer steht und keiner weiß, wo kommt das eigentlich her. Sie haben das festgemacht an zwei Menschen, die sehr reich sind -die eine ist zum Beispiel Kunsthändlerin und macht große Ausstellungen- und die jetzt ein sehr gutes und freies Leben führen, aber deren Familien während des Nationalsozialismus mit ihren Firmen extrem profitiert haben. Der Impetus war zu sagen: “Macht euch doch mal Gedanken über das, was übrig geblieben ist an diesen Sachen, von diesem ganzen Mitmachen“.
Und das hat mich irgendwie so berührt, weil ich dachte, man muss überhaupt kein schlimmer Täter gewesen sein, um von diesem System auf eine perfide Art und Weise profitiert zu haben und war auch nicht gezwungen danach jemals wieder darüber zu sprechen. Und ich finde das hat irgendwie noch ganz viel mit heute zu tun. Weil gewisse Privilegien auch tatsächlich aus dieser Zeit überliefert wurden. Und so stehen geblieben sind. Weil wir in einer Gesellschaft leben, in der es auch eine extreme Ungleichheit gibt, was in dieser postmigrantischen Diskussion polemisch ausgedrückt wurde. Das war für mich so ein Anschluss sozusagen. Ja, wir müssen uns damit irgendwie beschäftigen.

Besucherin (Katrin B.): Ich möchte mich an dieser Stelle sehr herzlich für diesen Abend bedanken. Wir müssen uns damit auseinandersetzen auch im Kleinen und ich finde das so wertvoll, weil ihr das tut. Und Billy, du hast es gerade gesagt, ihr übernehmt die Verantwortung für diese Teile und das finde ich für uns als Gesellschaft ganz wichtig, dass das heute auch im Kleinen überlegt wird. Eben: Wem gehört denn eigentlich das Silber, das an der Wand hängt oder auf dem Flohmarkt verkauft wird? Wo kommt das eigentlich her? Wie das Zitat der Bewertung von „Antiquitäten aus ostpreußischen Nachlässen“ und so weiter.  Mir war aber noch ein Teil wichtig, wofür ich mich auch sehr bedanken möchte: Das ist auch die emotionale Ebene, die Trauer, die auch frei werden darf. Billy, du sagtest anfangs, es ist ja abgespalten und man will nicht darüber sprechen. Ich kenne das aus meiner Familie. Da ist auch die Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus in keinster Weise aufgearbeitet, wir können da nicht darüber sprechen.
Der Abend heute, diese Diskussion, was ihr uns zeigt und miterleben lasst, ist eine Form der Entspaltung. Ist eine Form des Zusammenfügens. Klar sind es Fragmente, also auch ein Trauma äußert sich in Fragmenten. Wir können diese Verbindungen teilweise nicht mehr herstellen, ihr tut es durch das Fakten-Suchen. Man arbeitet sich so von Fakten-Insel zu Fakten-Insel, und macht dann wieder etwas greifbar.                                                                                     Ich möchte mich auch sehr bedanken für diese Gefühle, ich bin sehr sehr berührt und denke es hat uns alle sehr berührt, weil es eine Form ist, etwas wieder zusammenzuführen, zu fügen und diese Spaltung aufzuheben und letztlich auch mit einer Trauerarbeit an einzelnen Stellen zu beginnen.
(Applaus)

Besucher: (an Burchard Dabinnus und Simone Bartels gerichtet) Ich wollte nochmal fragen, weil der Begriff der Schuld spielt ja eine Rolle… haben Sie denn als Familie Schuld gespürt? Oder spüren Sie es jetzt? Weil Sie sind ja eine andere Generation, und nehmen wir an, dass die „Arisierung“ nicht als eine Hilfsmaßnahme gestaltet worden ist, würden Sie denn mehr Schuld spüren?

Burchard Dabinnus: Wahrscheinlich schon, denn man möchte…jeder will, dass seine Großeltern irgendwie gut oder nett waren, und natürlich fühlt man sich auch für seine Vorfahren -auch wenn man selber da überhaupt nichts dafür kann, weil man anders aufgewachsen ist- doch für sie verantwortlich. In diesem Sinne auch eine Schuld.
Da könnte man jetzt auch die Frage stellen: Warum mache ich das alles, habe ich das alles angeleiert? Polemisch könnte man sagen: Ich versuche erst möglichst viel Negatives aus der Kiste zu holen, was vielleicht alles „böse“ war, um am Ende zu beweisen, dass es doch „gut“ war.
Das könnte man mir jetzt vorwerfen oder ich mir selber. Aber diese Geschichte ist ja auch nur eine Beispielgeschichte.

Simone Bartels: Also ich bin da schon auch dran an dem Thema, emotional. Ich denke, ich würde mich schuldiger fühlen. Auch wenn Billy uns „freispricht“, aber es beschäftigt mich schon.

Henri Rösch: Und um noch kurz den Kreis zu schließen: Ich habe das Gefühl weit genug weg davon zu sein. Also bei mir ging es auch bei dieser Auseinandersetzung nicht mehr darum, dass das mit einem Schuldgefühl zu tun hat, sondern eher mit einer Klarstellung. Ich glaube, ich würde mit beiden Versionen klarkommen. Aber für mich ist es auch etwas anderes, weil ich einfach eine Generation weiter bin. Ich will trotzdem sagen, dass es mich in meinem Leben extrem beschäftigt hat. Mein Aufwachsen mit den Großeltern in einer gewissen Nähe, aber auch in einer großen Distanz, weil es Dinge gab, die immer im Raum standen und die wir gefühlt haben und die auch Spuren auf uns Enkeln hinterlassen haben aber das steht für mich für sich.
Und die Geschichte der Urgroßeltern und so weiter? Für mich geht es da in der Auseinandersetzung nicht mehr um Schuld oder nicht Schuld sondern eher darum, was war denn? Und das aber auch tatsächlich in meine Identität zu integrieren. Dann auch sagen zu können: Okay, vielleicht war es dann ja auch so.

Simone Bartels: Ich bin ja eine Generation über dir und die Verstrickung ist schon noch sehr groß. Und mit dem Tod der Eltern hat es erst angefangen, dass ich mich dem stellen konnte. Also in unserem Elternhaus gibt es Hunderte von Büchern über Krieg. Und ich bin als Kind eigentlich zwischen zwei Weltkriegen großgeworden. Ich bin in einem Feld zwischen einem mythischen Ostpreußen und einer goldenen Kindheit in Schlesien aufgewachsen. Ich wusste gar nicht, wo ich eigentlich selber stehe, wo lebe ich?  Ich wusste es nicht. Auch diese vielen Toten, die immerfort am Esstisch bei uns saßen. Ich war dann als Kind sehr verwirrt und auch mit den Eltern doch auf irgendeiner Ebene sehr verbunden. Ich konnte mich da nicht lösen, ich konnte mich erst mit dem Tod der Eltern lösen und das dann auch so vor mich stellen und sagen: Das war so und ich stehe hier.

Besucherin: Was macht ihr denn mit der Mühle jetzt? Was ist denn mit der Mühle heute?

Burchard Dabinnus: Juliet hat mir geschrieben… eine Cousine…
Billy Meyer: …Cousine dritten Grades…
Burchard Dabinnus: …von Billy und Brigitte…
Brigitte Meyer: …die Enkelin von Paul Graetz-

Burchard Dabinnus: Da müssen wir jetzt doch mal den Stammbaum projizieren…
Mit Juliet war ich auch im Kontakt über dieses Mühlen-Thema, weil sie sich da auch sehr dafür interessiert. Sie schrieb mir dann in einer Mail -obwohl sie mit euch ja auch einmal in Bartenstein war: „Do you still own the mill?“ (Gelächter im Publikum und auf der Bühne)

Brigitte Meyer: Ja, dann müsst ihr uns die Hälfte abgeben, ist ja klar, (wieder Gelächter), wenn euch das noch gehört.

Billy Meyer: Faktisch möchten Sie wissen, was ist mit der Mühle heute? Also die Mühle wurde von der Stadt Bartenstein an sechs Unternehmer verkauft, für einen Euro mit der Auflage sie zu renovieren.

Brigitte Meyer: Nach der Wende.

Billy Meyer: Ich war das letzte Mal dort, das war 2006/2007 und da ist jetzt ein Möbelgeschäft, und ein Solarium und wo früher die Rösser eingestellt waren, ein Elektrogeschäft.
Ich war 1991 mit meinem Vater dort und explizit war für ihn klar, dass er nichts zurück will. Es gab ja auf diesem Gelände auch noch Wohnungen, die gehörten auch der Familie Meyer und da wohnen Familien -mittlerweile in anderen Häusern- aber auf dem Grundstück. Das war für ihn eigentlich klar. Eingeschlossen und abgeschlossen. Aber es war mehr eingeschlossen als abgeschlossen.
Ich hatte nie das Gefühl, ich muss da etwas wiederhaben. Ich habe mich in Ostpreußen unglaublich kraftvoll gefühlt, ich habe diese Kraft von diesem Land, also wahrscheinlich auch von meinen Großeltern, in mir gespürt, ich hatte Pferdestärken. Die Pferde, die das Getreide transportiert haben…wirklich unglaublich.

Burchard Dabinnus: Das ist das Schöne an unserem Zusammentreffen,
was jetzt die positive Seite von allem auch Grausamen und Merkwürdigen und Furchtbaren anbetrifft, dass diese Kraft irgendwie für mich genauso spürbar ist zwischen uns. Also, dass ich das von euch wieder zurück bekomme oder irgendwie in anderer Weise mit dem Projekt weiterzumachen, mit euch da auch weiter dran zu arbeiten und damit irgendwie auch die Geister und Gespenster auch zu betrachten, aber mit dieser Kraft.

Billy Meyer: Ja ich finde… mich hat das sehr berührt, dass -in Anführungsstrichen- ein wildfremder Mensch sich mit unserer Geschichte auseinandersetzt, das hat mich sehr berührt, ich finde es ganz toll, danke.

Burchard Dabinnus: Und die hier waren und Interesse gezeigt haben, da bedanken wir uns bei allen, die hergekommen sind und mit uns diese Reise ein Stück weiter unternommen haben.

Applaus Ende der Veranstaltung am 25.2.23

5- Gespräch am 26.2.- „Familienangelegenheiten“

(Nach dem inhaltlichen -mit dem 25.2. identischen Teil- offene Geprächsteil, bei dem sich nochmal ganz andere Aspekte zeigten. Es  empfielt sich das Video mit Kopfhörern anzusehen, da der Ton leider etwas leise ist!)

Wieder zurück zur Hauptseite „Mühlengeschichte“

Der Unfall auf der Brücke

„DER UNFALL“

Der  Unfalltod der BR- Journalistin und Moderatorin Ingrid Andrea, am 16. Februar 1973, in München, stellt außerdem die Frage, welche Rolle ihr Vater in der NS-Zeit als „schmutzige rechte Hand“ des berüchtigten Gauleiters Koch und im Zusammenhang mit der „Mühlengeschichte“ spielte?

Andrae-Familienmitglieder melden sich: 

Aufgrund eines  aktuellen Presseberichtes  zum Projekt nimmt der Sohn von Ingrid Andrae, Jürgen, Kontakt auf und steuert  Informationen und Dokumente aus dem Familienarchiv und persönlicher Erinnerung bei. Auch die Enkelin Michaela,  Künstlerin in Linz ( Mika Bankomat ) meldet sich. Eventuell wird sie sich bei einem Nachfolgeprojekt mit einer eigenen Arbeit zu ihrer Familiengeschichte beteiligen.

Video von Arno Friedrich:   VIDEO DOKU BRÜCKE 


Fotos  von Franz Kimmel.  Brücke Fotostrecke

Wieder zurück zur Hauptseite Mühlengeschichte

Wie kommt es zum Projekt „Die Mühlengeschichte“?

 


Die teilweise noch erhaltenen Gebäude der "Bartensteiner Mühlenwerke"im heutigen Bartoszyce. Fotos: Joanna Jakutowicz

“ Sie sind ein hohes Risiko eingegangen und haben am Schluss noch die schöne Mühle übernommen“

schreibt ein Bekannter in der Nachkriegszeit an meinen Großvater. Es existieren in den Familien  Dabinnus und Meyer verschiedene lose Dokumente zur „Mühlengeschichte“.  Ebenso  gibt es mündliche Überlieferungen bei den Nachkommen beider Familien und natürlich die Frage auf welche Art und Weise, unter welchen Umständen das Eigentum der Familie Meyer zum Eigentum meines Großvaters wurde.

ZEITSPUREN:

In meiner Arbeit Flüsterzettel- eine geheime Liebe beim BND wurde  bereits diese ungeklärte Familienangelegenheit aus der NS-Zeit angedeutet. Die Übernahme eines jüdischen Großbetriebes durch meinen Großvater im früheren Ostpreußen.

NS- Gauleiter  Erich Koch  

Gauleiter Koch wollte die Mühle „schlucken“,  den Betrieb in sein zusammengestohlenes Wirtschaftsimperium in die  „Erich Koch Stiftung“einspeisen.  Die Situation für die Familie Meyer wurde immer kritischer.  Zumal ein Verwandter der Familie Dabinnus einer der wichtigsten Mitarbeiter des Gauleiters war und mit finsteren Methoden Enteignungen erzwang.

„Die schmutzige rechte Hand des Gauleiters“

Nennt  Marion Gräfin Dönhoff 1949 in der ZEIT einen gewissen Dr. Bruno Dzubba.  Dieser  spielte im Macht-System des ostpreußischen Gauleiters  Erich Koch eine üble Rolle als Enteigner, als „Manager der Teufels“.  Bis weit in die Ukraine reichte nach dem Überfall auf die Sowjetunion auch sein „Wirkungskreis“. Nach dem Krieg arbeitete Dzubba  unauffällig als Steuerberater, heiratete in eine Fabrikantenfamilie, entging einem gerichtlichem Verfahren.  Im Lauf der Recherchen stellte sich die Frage:  Ist Dr. Dzubba identisch mit einem sogenannten  „Onkel Bruno“,  von dem auch in Nachkriegspost im Verwandtenkreis immer wieder mal zu lesen ist. Und welche Rolle spielte dieser „Onkel Bruno“ bei der Enteignung der Familie Meyer?  Antworten auf diese Frage sollen bei genaueren Archivrecherchen im weiteren Verlauf des Projektes noch gefunden werden!

War eben die „Übernahme“ des Mühlenbetriebes   eine typische „Arisierung“ zu Gunsten der deutsch-deutschen Familie Dabinnus, so wie tausende andere damals im NS-Staat, eine Enteignung zum Schleuderpreis?  Oder – so die familiäre Legendenbildung und Entlastung des Familiengedenkens – ein Versuch einer arischen „Tarnung“,  in der Hoffnung der Spuk geht bald vorbei?   Ein Freundschaftsdienst , um  Gauleiter Koch zu täuschen.  Aber was war mit der Parteimitgliedschaft?

Der Wunsch die Großeltern/Vorfahren in ein gutes Licht zu rücken ist Normalität in deutsch-deutschen Nachkriegsfamilien bis in die Generation der Urenkel  (s.  Opa war kein Nazi -Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, bei Fischer-Taschenbücher)

In einem „Corona -Solo“ im Münchner  Theater HochX  habe ich mich 2020 begonnen mit der „Mühlengeschichte“ näher zu beschäftigen, mit Billy Meyer dem Enkel der jüdischen Familie ein Interview aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich hauptsächlich Fragen und keinerlei Antworten ( s. SOLO  ZEIT- RESTE ca. bei Min. 32.00 im Video, bei 36.30 im Audio )

Mühleninhaber Dr. Hans Joseph Meyer, der Deutschland nicht verlassen wollte, versuchte zunächst in Berlin den Untergang des 1000-jährigen Reiches abzuwarten.  Seine Ehefrau blieb an seiner Seite. Cioma Schönhaus erwähnt  Begegnungen mit Dr. Meyer in seinem Buch „Der Passfälscher“.  Im Juni 1943 erfolgte dann die Deportation. Angeblich holte man Dr. Hans Joseph Meyer aus Theresienstadt und sogar noch aus Auschwitz zur „Beratung“ seines früheren Betriebes zurück nach Ostpreußen. (Dokument von Dr. Paul Graetz aus der „Wiener Holocaust Library“)

 
Dr. Hans Joseph Meyer, Lotte Frieda Meyer, geb.Baerwald.
Foto: Besitz Familie Meyer

Das Ehepaar Meyer, ebenso wie andere Mitglieder dieser ostpreußisch-jüdisch-deutschen Familie endeten in Auschwitz.

Aus dem letzten Aufenhaltsort des Ehepaars Meyer in Berlin sind noch Briefe an ihre Söhne im Internat in der Schweiz erhalten. Diese wollen wir transscribieren und in Berlin vor Ort in eine Veranstaltung einbinden.

Meyer-Enkel Billy sucht 2006 den Sohn des Gutsbesitzers Georg Dabinnus auf.  Heiko Dabinnus  ist inzwischen Mitte achtzig . Billy Meyer versucht konkretere Fakten zu den Vorgängen damals zu erfahren. Billy Meyer wird herzlich empfangen aber Licht ins Dunkel bringt der Besuch auch nicht.

“Wir hatten ja auch jüdische Freunde”.

Diesen -hilflos entschuldigenden Satz- haben wir in unserer Familie ab und dann gehört.  2022  taucht aber im Bundesarchiv  die Aufnahmekarte der Großmutter in die NS-Frauenschaft auf.  Jetzt stellen sich neue Fragen. Die Wunsch- Bilder von Großvater und Großmutter bekommen Schatten und Risse.

DAS PROJEKT „DIE MÜHLENGESCHICHTE“  ALS ECHOKAMMER:

Einige Mitglieder der deutsch-jüdischen Familien Meyer und Grätz überleben den Holocaust. Die Reste der deutsch-deutschen Familie Dabinnus überlebt den Krieg als Flüchtlinge mit verlorener Heimat.  Schuldgefühle, intergenerationelle Traumata  in beiden Familien. Aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Billy und Brigitte Meyer und Burchard Dabinnus und seine Schwester Simone sind beide “Erben” dieser „Familien-Angelegenheit“. Familienvertreter .  Vieles wird sich nicht mehr genau klären lassen.  Zeitschichten überlagern sich. In der Nachkriegszeit traf sich der Großvater  Georg Dabinnus einige Male mit Paul Graetz, dem überlebenden Schwager des Ehepaars Meyer. Man versuchte eine Klärung der „Mühlengeschichte“ und von eventuellen finanziellen Ansprüchen. Widersprüche und Legenden bleiben im Raum stehen.  Dokumente oder Beweise sind verloren.

Und heute, Jahrzehnte  später arbeiten die jeweiligen Nachkommen gemeinsam  an diesem Projekt „Die Mühlengeschichte“. Das ist einerseits ein privater Impuls und andererseits will  dieser Versuch  im Jetzt und Heute auch  eine Echokammer, ein Katalysator, ein Beispiel und eine Aufforderung sein. Kulturell wie politisch.  Was spiegelt sich heute in uns selber, welche emotionalen Sickerspuren, Bodensätze sind in uns, in unseren Familien abgelagert, verschwiegen ?

Und außerdem, die  „Reste von Gestern“, sind ja  wieder bedrohliche Gegenwart von heute:  Alter Antisemitismus mit neuem Anstrich, in neuen Verkleidungen zum Beispiel.   In  verschiedenen Verschwörungstheorien und auch in den sozialen Medien immer offener „en vogue“. Rechter  und linker Aktivismus treffen einig zusammen.  Und der Mythos, daß die Welt eigentlich von reichen und mächtigen Juden gesteuert wird, pflanzt sich anscheinend sowieso von alleine fort.

„Schließlich haben wir die Kontingente nicht direkt vom Juden gekauft“.

Ein familiärer Nachkriegsbrief der 1960er Jahre.  „Zitiert“ der Großvater diese Formulierungweise, um sich gegen den Vorwurf zu wehren, er hätte sich an jüdischem Eigentum bereichert?

Eine alte Dame aus einer anderen Familie -aus dem früheren ostpreußischen Bekanntenkreis der Mühleninhaber- sagt zu ihrem Sohn, als dieser nach Dokumenten zu seinem Großvater sucht, er solle…

„…nicht das Ansehen des Großvaters beschmutzen!“

Und da sind wir  mitten drin -immer noch- und können nicht behaupten, wir heute  jetzt ganz andere Menschen und hätten auch damals sicher ganz anders gedacht und gehandelt!

Viele  Mitglieder der jüdisch-deutschen Familie werden umgebracht, einige können ins Ausland gelangen. Mitglieder der Gutsbesitzerfamilie finden sich nach dem Krieg in Schleswig Holstein und schließlich in Bayern wieder.

In dieser Familien-Angelegenheit, der „Mühlengeschichte“, wie sie in einem Nachkriegsbrief kryptisch bezeichnet wird, haben sich private Historie und Zeitgeschichte dicht ineinander verhakt.

Und jetzt ein Versuch einer gemeinsamen Klärung. Auch Mitglieder von Familien, die in der NS-Zeit mit den „Bartensteiner Mühlenwerken“ in verschiedenen Zusammenhängen standen, liefern Beiträge.  Ebenso sind Nachkommen aus der Urenkelgeneration –jetzt im Studentenalter- in die Recherche und künstlerische Umsetzung eingebunden. Puzzlestücke aus den verschiedenen Familien werden zusammengelegt. Bei allen gemeinsamen Bemühungen und allem heutigen Einverständnis wird ein Schatten zwischen den Familien stehen bleiben.

PROJEKTSUPPORT:

Zur richtigen Einordnung und Beurteilung von Dokumenten, Hintergründen und Materialien ist teilweise spezielles historisches Fachwissen notwendig. Deshalb wurde Kontakt zu entsprechenden Wissenschaftlern aufgenommen.

Recherche und Beratung : Dr. Christian Rohrer (Berlin). Weitere  Hilfestellung und Beratung (Arisierungen)  Dr. Iris Nachum (Tel Aviv) und Historiker  Hermann Simon (Berlin).

Ein wichtige Vermittlerin ist Frau Dr. Gebala vom  Deutschen Kulturforum östliches Europa (Potsdam) .

Inzwischen ist auch ein Nachkomme der Familie Dzubba-Andrae mit im Team: Jürgen Andrae, der Enkel von Dr. Dzubba, dem „Arisierer“und Günstling des Gauleiters Koch.

Die Veranstaltung in Olsztyn im August 23 ist durch den Kontakt zu Frau Kurowska zusatndegekommen, Vorsitzende der NGO „Borussia“ in Olsztyn, die seit Jahren Verständigungs und Kulturarbeit mit Veranstaltungen, internationalen Workshops etc. leistet.

Literarische Inspirationen  kommen auch durch den Autor  Artur Becker, der am Ort der Mühlengeschichte in Bartoszyce/Bartenstein aufwuchs und sich in Romanen und Schriften intensiv mit den polnisch-jüdisch-deutschen Zeitschichten beschäftigt hat.

Femizid aktuell Österreich/Deutschland

Quelle: ntv.de, mli/dpa

Maßnahmen gegen Femizide geplant Weiterer Tod von Frau schockt Österreich

Eine Serie von Tötungen von Frauen in Österreich hat Bestürzung und Rufe nach politischen Maßnahmen ausgelöst. Nachdem eine Frau in Wien mutmaßlich von ihrem ehemaligen Lebensgefährten mit einem Kopfschuss getötet worden war, kündigte die Regierung am Freitagabend ein Maßnahmenpaket an. Seit Jahresbeginn gab es bereits neun Fälle, bei denen Frauen umgebracht wurden und die Verdächtigen ihre Partner oder Ex-Partner waren.

Die 35-jährige Frau und zweifache Mutter wurde laut Polizei am Donnerstagabend in ihrer Wohnung erschossen. Der Fall erregte auch wegen des 42-jährigen Verdächtigen großes Aufsehen. Die nunmehrige Fraktionschefin der Grünen, Sigrid Maurer, hatte ihn im Jahr 2018 öffentlich beschuldigt, ihr frauenverachtende Facebook-Postings geschickt zu haben. Der Mann, ein Bierhändler, reagierte mit einer Klage wegen übler Nachrede, ließ sie jedoch schließlich fallen.

„Ich bin zutiefst erschüttert. Das ist unerträglich“, schrieb Bundespräsident Alexander Van der Bellen auf Twitter über den jüngsten Fall. „Entschlossene Maßnahmen sind jetzt endlich dringend erforderlich“, forderte der ehemalige Chef der Grünen.

Innenminister Karl Nehammer und Frauenministerin Susanne Raab von der konservativen ÖVP kündigten einen „Sicherheitsgipfel“ mit führenden Polizeibeamten für Montag an. Dabei soll es unter anderem darum gehen, wie Behörden durch engere Zusammenarbeit gefährdete Frauen besser schützen können. Während Raab betonte, dass jede betroffene Frau Schutz und Hilfe in Anspruch nehmen könne, klagten Opferschutzorganisationen erneut über völlige Überlastung und mangelnde staatliche Unterstützung.

Quelle: ntv.de, mli/dpa

„Flüsterzettel-Solo“

 

 

„Flüsterzettel-Solo“ ( Premiere Juni 2020 im HochX-Theater)

 Der gestreamte Videomitschnitt  des Solos  ( in einer Veranstaltung der ev. Kirche Herrsching in  Zus.arbeit m.d. ev. Akademie Tutzing)    Audiospur   aus dem Solo

 

INHALT: In den Zettelbotschaften, die sich  meine Eltern in der  Anfangszeit ihrer Beziehung schrieben -im Büro des BND in den 1950er Jahren- klingen zwischen den Zeilen, zwischen Liebessehnsucht, Alltagsbewältigung und Interna des Bürolebens auch alle Widersprüchlichkeiten der Zeitgeschichte an.
Diese Fragezeichen und Leerstellen greife ich  mit meinem „Flüsterzettel-Solo-Programm” auf. ( Eigentlich hätte eine Wiederaufnahme des Flüsterzettelabends gespielt werden sollen, so wurde durch Corona ein neues Format daraus. Das wechselte von „Flüsterzettel-Solo“ über „Zeitreise“ bis zu „Zeit-Reste“ ein paarmal den Titel  da sich auch die inhaltichen Schwerpunkte weiterentwickelten und entwickeln)

Ich wage als “Nachgeborener” eine sehr persönliche Zeitreise: Ich konfrontiere mich mit meinen eigenen bewussten und unbewussten Wahrnehmungen; in den 1960er und 70er Jahren, in meiner Familie und in meiner Umgebung:
Die “Reste von Gestern”, die Sickerspuren der Geschichte. Worüber gesprochen wurde und worüber geschwiegen werden musste.
“Du sollst nicht lügen” hieß es und doch musste ja gelogen werden. “Du sollst nicht töten” und doch war ja getötet worden, das Kind fragt lieber nicht danach.
Eines Tages stehe ich als Schüler am Bahnhof Herrsching und verteile Flugblätter: ”Freiheit für Rudolf Hess”, steht darauf. Ein Schulfreund hatte mich darum gebeten. Ich selbst wußte nichts von Rudolf Hess. Ein paar Jahre später nimmt mich als Jugendlicher eine Top Spionin der HVA, die in der Abteilung seines Vaters beim BND arbeitet, auf einen Skiausflug mit.  Und es gab ja auch noch den geliebten Kinder-Grossvater, den Oberst a.D. Filzinger, Artilleriekommandeur und im Einsatz bis weit in die Ukraine.

Und sehr viel später taucht plötzlich der Enkel einer jüdischen Familie aus dem früheren Ostpreußen auf und stellt Fragen zu seinen Grosseltern, die mit Familie Dabinnus vor dem Krieg eng befreundet waren.

Dafür habe ich Recherchen gemacht und Interviews geführt, die in Ausschnitten auch Teil des Programms sind.
Und es wird bei dieser “Rückschau” rasch klar, wie aktuell manche Themen und Fragen immer noch sind, beziehungsweise wie die “Reste von gestern” leider in unserem heutigen Leben wieder zu neuer Blüte kommen.

Von und mit Burchard Dabinnus
Raum: Marlene Rösch

 

Lüge oder Wahrheit

Der Angeklagte im Prozess 2014

 

Ich selber hätte im Podcast gerne mehr von den Reaktionen und Einlassungen des Winfried Brenner, vormals Winfried Ratajczak ezählt. Ich habe ja auch den Prozess im Jahr 2014 mitgeschrieben. Aus den Verfahren des Jahres 1983 haben wir eine (auszugsweise ) Niederschrift, aus dem Prozess von 1985, der dann mit seiner Verurteilung wegen Mordes endete, die Prozess-Unterlagen, als auch seine ersten Geständnisse aus dem Februar 84. Des weiteren einige Protokolle der angefertigten Gutachten. Von Seiten der Redaktion musste aber vieles, was thematisch ebenso interessant wäre, herausgenommen werden. Das hatte letzlich Gründe der Dramaturgie bzw. der dann doch begrenzten Folgen und der vielen Inhalte, Personen und Geschichten, die wir ohnehin schon hineingepackt haben.


Seine Aussage bezüglich der Tat in Wien ist im Protokoll direkt nach der Festnahme am Abend des 12.2.84 direkt und vielleicht die „ehrlichste“ von allen Modifikationen, die er noch von sich geben wird:


„Ich habe am Freitag den 1o.2.1984 gegen 17.oo Uhr, meine frühere Lebensgefährtin Konstanina Ulitsch vor ihrem Wohnhaus in Wien 14., Kaltenbäckg. 2, nachdem ich dort auf sie gelauert hatte, ·mit meiner Pistole, Marke FN, Kaliber 7,65 mm, erschossen. Im Vordergrund meiner Tat stand Rache. Sie hat mich angezeigt und deswegen war ich eingesperrt. Sie hat auch meine Persönlichkeit zerstört. Den Mann, der mich hindern und halten wollte, habe ich angeschossen und beim Handgemenge mit meinem Messer niedergestochen. Dieses Messer wurde mir bei meiner Verhaftung abgenommen.“


Im Dezember 83 findet  das 1.Verfahren gegen ihn statt, weil er wegen Vergewaltigung, schwerer Drohung gegen Konstantina Ulitsch und wegen Betrugsdelikten in U-Haft sitzt. Er schreibt Konstantina Briefe aus dem Gefängnis, in denen er Reue zeigt und alles wieder gut machen will etc.  Sie will nichts mehr davon wissen, verständlicherweise. Das fasst er dann – nur als Beispiel für seine Art der Wahrnehmung – im längeren schriftlichen Geständnis am 13.2. folgendermassen auf:


„…..insbesondere konnte ich erkennen, daß ihr Verhalten nur von Haß gegen meine Person geleitet wurde. Ich war durch diese Erkenntnis so schockiert, daß ich vorerst keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ich und sie wußten, daß ihre, bei Gericht beigebrachten Anschuldigungen zum Teil zu Unrecht bestehen und sie ihren unrechten Weg, den sie gegen mich eingeschlagen hatte, weiterverfolgen muß. Deswegen mußte sie mich immer aufs Neue belasten und neue Anschuldigungen vorbringen. Zu diesem Zeitpunkt war mir klar, dass mich Diana und ihre Mutter, die ebenfalls ihren Haß gegen mich versprühte, psychisch vernichten wollten. Ich kam zu dem Schluß, wenn mir Diana und ihre Mutter jede weitere Zukunft verbauen wollen, daß ich da reagieren müsse. Ich habe in Gedanken erwogen, Diana umzubringen, um von ihrem Haß befreit zu werden. Als Tatwaffe sah ich in Gedanken eine Pistole vor mir und stellte mir das Bild vor, wie ich sie erschießen werde. Von diesem Moment an, zog ich konkret in Erwägung, daß ich sie umbringen werde und ich habe damit begonnen alle Vorbereitungen zu treffen, damit ich dieses folglich einmal realisieren kann. Ich machte mir Gedanken wie ich mir eine Waffe beschaffen könnte.“

„Generell ist zu sagen, daß ich Dianahs Liebe wollte, nicht ihren Tod. Generell ist auch zu sagen, daß während der letzten beiden Wochen, insbesondere vor der Tat den Wunsch verspürte, Dianah zu töten, ich diesen Wunsch aber stets nicht bewußt werden ließ. Der Wunsch,begleitet von der Vision der Tat, daß ich Dianah also mit einer Pistole niederstrecken würde, erschien mir als Befreiungsakt….Eine seltsame Vorfreude erfasste mich, ein Gefühl, daß ich alsbald von einer mich erdrückenden Last befreit sein würde, Melodien von Schlagern hörte ich innerlich. Ich ging in die Kaltenbäckgasse….“
„Ich weiß undeutlich, daß ich auf Diana geschossen habe, sehe ein verwaschenes Bild, wie sie auf dem Bürgersteig liegt, erkenne dabei aber nicht die geringste Verletzung oder gar Einschüsse“


Aus diesen Zitaten aus seinem schriftlichen Geständnis vom 13.2.84 erkennt man das Schema, das er auch 2014 im Prozess anwendet. Man weiss nicht, was er davon tatsächlich auch  glaubt. Er leugnet nicht grundsätzlich das Geschehene, er findet aber tausendundeine Begründung, aus welchen Hemisphären er gesteuert worden sei und dass er das eigentliche Geschehen nicht mehr wirklich erinnere etc. Wobei seine Argumentation 2014 noch etwas anders gelagert ist, aber grundsätzlich hat sich in seinen Einlassungungen und an dem ihn selbst entlastenden System nichts verändert. Eigentlich ist er das Opfer. Etwas ist passiert, wofür er nur teilweise verantwortlich ist.


„…..kann passiert sein, an das ich mich in Einzelheiten nicht erinnern kann. Einzelne Bilder kann ich lediglich vergegenwärtigen, wovon eines ist, daß ich den mir zu dem Zeitpunkt seltsam klingenden Knall der Pistole höre, allerdings nicht in einer Vielzahl, so daß ich nicht weiß, wie oft ich gefeuert habe. Ich weiß nicht, wo ich örtlich die Schüsse auf Dianah abgegeben habe“


Im Prozess von 2014 wird er -auf den Mord an Konstantina Ulitsch in Wien angesprochen- etwas vom leisen Klang einer Kinderpistole erzählen. In Bezug auf den massivst von ihm verletzten Georg Blam, den Konstantina zu ihrem Schutz her gebeten hatte, der Winfried Ratajczak nach den Schüssen von hinten ansprang und mit ihm kämpfte und dem er durch die Schulter schoss und ihm schwerste Messerverletzungen zufügte, äussert er:
„Ich bedaure sehr,  jemanden verletzt zu haben, der sich in diese Angelegenheit einmischte, mit der Absicht zu helfen und Unheil zu verhüten. Diesen Mann zu verletzen war keine in irgendeiner Form geplante oder beabsichtigte Handlung. Ich wußte nicht, daß dieser Mann ein Kriminalbeamter war, wie mir später mitgeteilt wurde.“


Und sich selbst bedauernd, auf die Frage nach seinen finanziellen Verhältnissen:

„Ich habe kein Vermögen mehr, ich habe meinen ganzenVerdienst und mein Vermögen in Dianah investiert „


Was natürlich auch eine entsprechend haarsträubende Aussage ist, denn er ist schon vollkommen überschuldet aus der BRD zu Konstantina gezogen, hat in Österreich wiederum Schulden aufgehäuft, mit ungedeckten Schecks betrogen, nach seiner Freilassung im Januar 1984 von seinem Bekannten Mayer, der ihm einen Job und eine neue Unterkunft verschaffte, am Tattag 20.000 Schilling „geliehen“ und den Bekannten bei einem Verkauf von Heizungselementen aus dessen Lager um 14.000,- geprellt und sich anschliessend von dem Geld die Tatwaffe beschafft. Dies war ja bereits die zweite Waffe, die erste hatte man ihm bei seiner Verhaftung, nach der Vergewaltigung von Konstantina, der Wohnungszerstörung und der Geiselfahrt mit Waffe am Kopf von Konstantina abgenommen. Um von all dem abzulenken hatte er dann noch einen seiner inszenierten Selbstmordversuche unternommen und auf diese Weise Schutz in der Klinik gesucht.
2014, in der Rückschau, stellt er die brutale Taten von 1983 und 1984 stichpunktartig so dar:


„….. Sie ist oft nicht nach Hause gekommen, hat auf Fragen ausweichend geantwortet. Diese Situation habe ich nicht verkraftet, habe im Zuge des Ausnahmezustandes Wutanfall gehabt. Wurde verhaftet, habe Job verloren. Ein halbes Jahr später aufgrund Gutachten entlassen. Gelöbnis ihr sich nicht zu nähren. Berufliche Situation vorher: Nebengeschäfte mit Heizungsanlagen in der Wiener Peripherie. Mit viel Geld unterwegs. Braucht man Waffe dafür. Im Zuge dessen für 10000 Schilling Pistole besorgt. Nicht gedacht die Pistole später so ein…..hatte Pistole eingesteckt. Hatte sie gesehen, bin auf sie zugelaufen, habe sie erschossen. Habe nicht wahrgenommen, sie in Begleitung ihres Sohnes. Diese Ulitsch leider tötlich getroffen. Polizeibeamten verletzt mit Messer…“


Er ist ein Meister der rhethorischen Verschleierung. Er lügt so weit es ihm möglich erscheint. Was gar nicht zu leugnen ist, gibt er grundsätzlich zu. Diese Art von Darstellung wiederholt sich in allen Aussagen. Der Tod von Konstantina, später dann von Saskia wurde nur indirekt von ihm verursacht. Die Frauen haben ihn verletzt durch Zurückweisungen, ist der grundsätzliche Tenor.
In Wien wurde er 1983 in der U-Haft durch den verständnisvollen Psychiater  Dr. Gross, ehemals für die Euthanasie von Kindern zuständig, unterstützt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Gross  ) In dem Gesprächsprotokoll, das dem im Januar 1984 erstellten Gutachten zugrunde lag, fordert der Gutachter Winfried Ratajcak geradezu heraus, sich als Opfer dieser unberechenbaren Frau wahrzunehmen, die ihn und seine Liebe zu ihr ausnutzt. Auch sein Verteidiger Eichenseder schlägt genau in diese Bresche. Und er hat seine Meinung bis heute nicht revidiert. Wie er im Interview mit uns im Februar 2020 versichert, war der Mord an Konstantina Ulitsch nach der Haftentlassung von Ratajcak ganz klar eine „Beziehungstat“. ( Natürlich haben alle diese Taten einen Ursprung in einer privaten Beziehung, aber der Begriff bedeutet bisher- und leider auch in seiner Auslegung im Rechtssystem- dass man dem Mann zugesteht, er hätte aus einem verständlichen Motiv, Eifersucht etc. gehandelt und somit ist die Tötung der Partnerin mehr oder weniger ein Kavaliersdelikt, etwas, was eben mal passieren kann )
An den Mordprozess kann Eichenseder sich nicht mehr erinnern, er hätte keinen Akt mehr davon. Gut erinnern kann er sich aber an das Verfahren im Dezember 1983, wo eben Konstantina Ulitsch mit dem „Riesen- Busen “ auftauchte und seinen Mandanten bis aufs Blut reizte. Zum Tod meiner Cousine und somit zum erneuten Morden seines ehemaligen Mandanten sagt er gar nichts, er geht darauf überhaupt nicht ein.
Der Tod von Konstantina Ulitsch sei bedauerlich aber unvermeidbar gewesen. Alle hätten ja noch auf Ratajczak eingeredet, versucht ihm klar zu machen, dass die Beziehung entgültig vorbei sei und er das akzeptieren muss. Aber mehr hätte man gar nicht machen können. Und auch Eichenseder weiss genau, was er sagen will und was nicht. Und auch er betreibt im Nachhinein eine Verschleierung der Historie. Die Entlassung Ratajczaks wurde, wie bekannt, kurz nach dem Gutachten und der Auflage, keinen Kontakt aufzunehmen, vom Richter, der noch im Dezember 1983 gesagt hatte, er könne eine Enthaftung des R. nicht verantworten, dann im Januar 1984 doch unterschrieben. Wieso er das dann doch tat? Sicher hat es im Hintergrund irgendwelche Absprachen gegeben, oder der Richter wurde von Anwalt und Gutachter überredet, alles Spekulation.
Winfried Ratajczak, dessen massive Gewaltanwendungen gegen Konstantina Ulitsch im Juni und Juli 83 eine gewisse Hilflosigkeit bei der Justiz hervorriefen, hatte ja schon im Juni/Juli 83 das gelobte Kontaktverbot vollkommen ignoriert, wieso sollte er sich jetzt daran halten?
Der Richter, der sich dann nach der Tat auf das positive Gutachten berief, hätte ihn genau genommen nicht frei lassen müssen. Denn das vom Staatsanwalt im Verfahren im Dezember 83 beantragte Gutachten sollte gar keine Prognose abgeben, das war und ist nicht die Aufgabe eines solchen Gutachtens, sondern nur die Schuldfähigkeit des Untersuchungshäftlings beurteilen. Der Richter hatte ja noch vorher gesagt, er wolle R. nicht aus der U-Haft lassen, denn er könne es nicht verantworten.
Und prompt geschah das vorhersehbare Verbrechen. Was dann Anwalt Eichenseder wirklich gedacht hat und wie es ihm möglich war, erneut die Verteidigung des Winfried Ratajczak aufzunehmen, das bleibt sein Geheimnis. Und klar: er ist Profi.
Als es dann 1985 zum Mordprozess kommt, apelliert er, laut Prozessberichterstattung in seinem Schlussplädoyer sinngemäss an die Geschworenen: „Egal, ob sie auf Mord oder Totschlag entscheiden, bedenken Sie, er hat den Menschen getötet, den er am meisten geliebt hat! . Und prompt sind bei der Abstimmung auf die Fragen an die Geschworenen, zwei Geschworene nicht überzeugt, dass er Konstantina Ulitsch vorsätzlich getötet hätte. Die beiden stimmen mit nein. Natürlich sind das alles Details und vielleicht auch nicht wichtig sie zu erörtern, aber jede einzelne Entscheidung steht in einer Kette von Entscheidungen, die sich gegenseitig beeinflussen.
Er wird wegen Mordes verurteilt, aber er bekommt „nur“ 20 Jahre, obwohl möglich gewesen wäre, ihm ein, in Österreich damals mögliches“ Lebenslänglich“ zu geben. Diese 20 Jahre sind, so erklärt mir eine befreundete Staatsanwältin, soger relativ streng veranschlagt für eine „Beziehungstat“ zur damaligen Zeit. Die Mordmerkmale sind in Wien klar ersichtlich und nicht anzweifelbar. Im Vergleich: Bei der Tötung von Saskia konnte die Kammer 2014 z.B. die „niederen Beweggründe“ und eine planvolle Tötung nicht klar identifizieren oder wollte das nicht. Ja, sie lässt dem Täter doch die Möglichkeit, dass er aus Angst vor der Trennung durchgedreht ist. Also doch auch hier: „Reste von gestern“, ein gewisser Bonus für den Täter, der für sich sprechen kann, während das Opfer eben einfach tot ist.


Die rhethorischen Fähigkeiten des Täters- auch wenn die Kammer 2014 ganz klar sieht, dass er vieles falsch darstellt, haben aber letztlich doch einen untergründigen Einfluss. In seiner Einlassung, seinem „Rückblick“ auf die Zeit vor dem Wiener Mord, mildert und verdreht er auch die Vorwürfe bezüglich seiner Ehefrau in Paderborn, Marion. Der Vorwurf, sie sei aus Angst vor ihm, weil er mit einem Messer vor ihr stand, vom Balkon gesprungen ( es gbt dazu auch ein Aktenzeichen in Paderborn) bezeichnet er als:


„Verleumdung von früherer Frau, Vorwürfe, sie ist persönlicher Feind ab 1984 gewesen. Sie hat sich nicht um Kinder gekümmert. Vorfall angeblicher: sie ist so erschrocken und vom Balkon gefallen. Bedrohung mit Messer nicht zutreffend. Sie wusste, daß ich Messer besaß, als Zimmerschmuck. Sicher bin ich vielleicht verzweifelt gewesen. Besänftigung durch Bruder, Messer nicht gegen sie….Habe Suizidversuch mit Barbituraten….“


Der Anwalt der Nebenklage, Walter Lechner, geht Brenner ganz direkt an und fragt:
„Ist das Lüge ? Lügt die Frau, wenn sie von Gewaltsex spricht? Das entarnt Sie glaubwürdig. Von dem was Sie erzählen, was ist gelogen, was ist Wahrheit?“
Brenner antwortet:


„Keine Aussage, bis auf Nebensächlichkeiten trifft zu, zu keinem Zeitpunkt. So absurde Lügen. Als sie zum ersten Mal aufgetaucht sind, hätte ich sie leicht anzeigen können. Das hat nicht zugetroffen. Hatte Vorfall gegeben, bei dem ich mich im Haus aufgehalten hatte und ihr Vorhaltungen gemacht hatte, sie sie sei keine fürsorgliche Mutter. Die Kindersachen schmutzig, der Haushalt… Sie ist in der Tat auf den Balkon und gesprungen und zur Nachbarin gegangen. Ich wollte weder mit ihr schimpfen noch sonst etwas. Das war ein Unfall“ .


„Sie wußte, daß ich Messer sammle. In den Urlauben Finnenmesser, in Kroatien Messer. Damit habe ich nichts gemacht, geschweige denn jemanden bedroht.Das ist eine unglaubliche Schilderung, die hätte ich ja kennen müssen. Meine Schilderungen sind wirklich war.


Da kann man im Nachhinein, nach den Recherchen zu seinen früheren Beziehungen, nur bitter lachen. In dem Moment aber, als ich im Gerichtssaal sass und seine Aussagen hörte, war ich natürlich auch versucht, ihm zu glauben, da er ja ganz ernsthaft betroffen schien. Aber gerade das ist ja bei ihm nicht einzuschätzen. Über Jahrzehnte wurde seinen Beteuerungen dann doch immer wieder einmal geglaubt und selbst nach dieser vorerst letzten Brutalität seines Lebens, bleibt er bei seinen Selbstdarstellungen:


„Ich kann es nicht erinnern, nur weiß ich, ich war zu tiefst verletzt, zu tiefst verzweifelt, kann mich erinnern von Mozart ein bestimmtes Stück gehört zu haben. Das hat dazu geführt, daß ich ein einziges Mal vielleicht ausgerastet bin.
All diese Vorwürfe, mich betreffend, treffen an keiner Stelle zu. Ich habe ja 20 Jahre ohne Makel gelebt. Wenn ich so abwegig, so krank wäre, müsste dort ja auch etwas vorgefallen sein. Nicht im Ansatz waren Messer im Spiel oder eine Bedrohung. Meine Frau könnte nichts anderes sagen. Bitte, Herr Staatsanwalt !“

Was seine österreichische Ehefrau Marianne B. tatsächlich dazu sagt, wissen wir nicht. Sie antwortete weder auf Schreiben, noch reagierte sie, als wir in Wien bei ihr klingelten.
Er stellt sich als Saubermann und sensibler Ehrenmann dar. Natürlich glaubt ihm die Kammer eigentlich kein Wort, aber alles was er abstreiten und leugnen oder verdrehen kann, weil es ja ohnehin lange in der Verangenheit liegt, das probiert er zumindest. Irgendwen wird er damit schon beieinflussen können. Und wenn es der Prozessberichterstatter oder ein Gutachter ist. Mitleid erwecken, manipulieren, Macht ausüben, das kann er.
Nach seiner Entlasssung 1996 nmmt er sofort Kontakt zu seinen Söhnen auf, versucht diese auf seine Seite zu ziehen. Sohn Kai, ohnehin schon durch seine traumatischen Erlebnisse schwer angeschlagen und drogenabhängig, hält das alles nicht mehr aus und begeht Selbstmord.
Brenner schiebt den Tod seines Sohnes auf die Russenmafia, die seinen Sohn mit einer Plastiktüte erstickt hätte, aber er hätte sich um die genauen Umstände nicht kümmern können. Etwas kryptisch rutscht ihm immerhin die Bemerkung heraus:

„Da habe ich eine Schuld auf mich geladen“.

Was noch ein paar Jahre davor, Anfang der 1970er in Finnland passiert ist, muss er wohl oder übel zugestehen, denn das wurde polizeilich ausführlich protokolliert ( obwohl letztlich in Finnland, mangels Beweisen, keine Strafverfolgung stattfand, sondern nur eine Ausweisung ) :


„… in Finnland ist es, habe ich jetzt nicht mehr im Kopf gehabt, zur Ausweisung gekommen. Es ist zu einem gänzlichen Fehlverhalten gekommen, daß ich meine frühere Frau bedroht und leider- kann es nicht anders sagen, vergewaltigt habe. In diesem Zusammenhang ist als Drohwaffe auch ein Messer gefunden worden.“


Hier ist es zufällig dann doch, das Messer. Obwohl er ja Messer höchstens als Wandschmuck verwendete.
Als er dann im Prozess 2014 auf den Tag der Tat und somit auf Saskias Tod angesprochen wird, scheint er zwar emotional beteiligt und bewegt, aber der Prozessbeobachter fragt sich, ob seine Tränen nicht wirkliches Mitleid und Reue darstellen, sondern theatralische Tränen des Selbstmitleids sind.
So eine extrem narzisstischte Interpretation seiner sozialen Umgebung kann Ursachen in seiner Entwicklung als Kind und Jugendlicher haben. Auch die Verknüpfung von Liebe und extremer Strafe: Wenn sich eine von ihm begehrte Person weigert, ihm unabdingbare Liebe zu geben, sich von ihm abwendet.


Mit dem Kind, das er einmal war, könnte man noch Mitleid haben. Wie aus meinem Gespräch mit seinem Bruder hervorging, war Prügelstrafe in der Familie R. normal, so wie in vielen Familien. Prügelstrafe verbunden mit einer „christlichen“ Nachkriegs- Erziehung. Besonders geschlagen wurden die Söhne vom Vater, wenn sie gelogen hatten, also gewöhnten sie sich an, noch mehr und besser zu lügen. Auch wird das katholische Internat, auf das Winfried zeitweise geschickt wurde, sicher auch seinen Anteil gehabt haben. Das war „normal“. Der Bruder berichtet davon, wie er selber versuchte sexuelle Übergriffe der Padres abzuwehren und dass sein Bruder Winfried auf dem Internat missbraucht worden sei. Alles heute nicht nachweisbar. Dass da „Schuld und Sühne“ das Kind Winfried nachhaltig geprägt haben, ist anzunehmen und darf doch keinesfalls als Entschuldigung für sein späteres Handeln gelten.


„Darf ich ein persönliches Wort vorrausschicken an Freunde und Verwandte: Ich neige mein Haupt vor deren Schmerz und Zorn, ebenso mein Haupt vor der toten Saskia, in tiefster Reue und immerwährender Verzweiflung.“


Zu den Ereignissen des 11./12.8. 2013 beginnt er mit wohl gesetzten Worten eine neue Legende und man merkt deutlich, wie er eigentlich nur um sich selber kreist, seine Ängste und Gefühle ständig in den Vordergrund stellt und eben nicht wahrnimmt, in welcher Situation sich Saskia befand und auch nicht zugibt, dass -laut einer Aussage des Bruders gegenüber der Kripo, die der Richter eher zufällig zitierte- Saskia zu eben diesem Bruder Ernst- Rainer am Telefon, am Nachmittag der Tat, gesagt haben soll: “ Der Winfried hat ein Messer“, „Ich habe Angst zu sterben“, „Jetzt weiss ich, was der Winfried gemacht hat“.

Mir gegenüber im Februar 2020 wusste der Bruder das dann alles nicht mehr so genau.
Leider wollte der Bruder im Prozess nicht als Zeuge aussagen, da er mit Winfried absolut nichts mehr zu tun haben wollte und will und somit konnten seine Aussagen wohl nicht verwertet werden. Das Gericht hätte wohl die Möglichkeit gehabt, über Umwege, seine Aussagen trotzdem verwenden zu können. Diese Mühe hat man sich nicht gemacht. Wir haben diese Protokolle der Kripo leider auch nicht zu Gesicht bekommen, weil wir nicht an Gerichts-Akten von 2013/24 herangekommen sind. Aber Anwalt Lechner, der die Akten ja eingesehen hatte, hatte damals Inhalte aus den Protokollen angedeutet. Auf diesem Hintergrund sind Winfried Brenners weitere Einlassungen geradezu zynisch:


„Wir hatten uns versichert uns noch zu lieben, unbedingt würde eine Aussprache ausstehen. Am Sonntag hatten wir vorgehabt zu sprechen, wie wir zueinander gestellt wären. Die Unsicherheit verbalisieren und ja….. dummerweise sich Mut angetrunken dazu. Ich hatte die Befürchtung, die Trennung ausgesprochen zu hören und das hätte mich sicherlich nicht kalt gelassen. Wir haben uns dann selber zugeprostet in der Küche und haben nach Kaffee und Likör auf den Balkon gewechselt.
Dann hat Saskia Telefonate angefangen. An manchen war ich beteiligt, bei den meisten bin ich daneben gesessen und habe zugehört. Ich habe zunehmend Alkohol genossen und war nicht in der Lage etwas sinvolles zu tun. So verging der Nachmittag mit Trinken und Telefonaten. Ich kann mich erinnern, sie hat mit meinem Bruder gesprochen, mit Kostas aus Berlin, mit dem hat sie ja schon öfters telefoniert. Mein Anliegen zu sprechen wurde nicht eingelöst. In meiner Erinnerung hat sich dann die Stimmung verschlechtert, verdüstert. Die Ängste vor einer Trennung der Beziehung wurden immer intensiver. Ich bin in Gedanken dem gefolgt, der Trennung, habe mir das vorgestellt, hatte jeden Sinn verloren. Ich will das nicht bewerten. Ich wollte ein Ende vollziehen und dem nachkommen indem ich ein Messer, das ich aus meinem Haushalt mitgebracht hatte, im Wohnzimmer an mein Herz gelegt hatte. Ich habe gesagt: „Du hast mich verraten“. Saskia wollte das Messer wegnehmen: „lass das, du bist mein Zwilling“ .Dabei hat sie sich selber an der Hand verletzt. Sie wollte mich auf andere Gedanken bringen. „Komm gehen wir ins Bett“ und hat ihr Höschen ausgezogen. Ich erwiderte: „Ich kann nicht, geht nicht in dieser Sitution“. Ich kann mich nicht erinnern, habe mich ebenfalls entkleidet. Aber das war nicht meine Einstellung zu Liebe, zum Zusammensein. Mir war klar: das ist nicht die Wirklichkeit. Saskia hat sich in einen Sessel gesetzt und dann gesagt, sie gehe noch rasch auf die Toilette. Und dann höre ich die Wohnungstür öffnen und sie hat sich in den Flur gestellt und gerufen: „Hilfe. Hilfe, ich sterbe jetzt“. Sie war nach draußen gelaufen. Wieso ruft sie „Ich sterbe jetzt“?“


Er müsste doch ganz genau wissen, was ihn selber angeht, in so einer Situation: Es wiederholt sich etwas. Aber er geht nicht einfach weg. Hinüber in sein Appartement, auf die Straße, sonstwohin, stürzt sich vor den Zug, vergiftet sich, das könnte er ja tun. Sein Ego ist gekränkt und es muss zufrieden gestellt werden und das geht nur in dem er wieder Macht erlangt und sei es durch die Hinrichtung des Partners.
Die Kontaktaufnahme mit dem Bruder, weist aber deutlich darauf hin, was im Raum gestanden hat. Der Bruder erzählt im Gespräch davon, dass Saskia Angst gehabt hätte zu sterben, dass er sogar nach Prien fahren wollte, aber nicht konnte, es auch nicht wirklich geglaut habe, dass sein Bruder so blöd sein würde, nochmals so etwas zu tun. Ganz genau könne er sich nicht erinnern. Das alles weist darauf hin, dass es keine spontane Gewaltentladung war, sondern sich über Stunden vielleicht hingezogen hat. Die Kammer des Landgerichtes Traunstein hat diese Telefon-Situation mit dem Bruder fast gänzlich übergangen.
Der Bruder wurde als Vermittler hinzugezogen, so wie er wohl des öfteren schon in Konflikt-Situationen seines Bruder Winfried in verschiedenen Beziehungen eine Rolle spielte. Aber auch der Bruder zieht sich heraus, gibt zu, dass es eine kritische Situation gab, am anderen Ende der Leitung in Prien am Chiemsee, aber dass nochmal sowas passieren würde, hätte er nicht vermutet.
Winfried selber stellt dann den eigentlichen Tatverlauf so dar:


„Das habe ich weder gedacht noch gewollt, eigentlich wollte ich sterben. Ich nehme an, ich hatte die Augen geschlossen, stehe mit dem Messer -ich hatte keine Erfahrung mit Messern- gleichzeitig sollte ich das Diktum erfüllen: „Ich sterbe jetzt hier“. Sie war weiter gegangen. Das habe ich nicht beabsichtigt. Augenscheinlich habe ich mit geschlossenen Augen auf dem Gang auf sie eingestochen. Sie ist am Treppengeländer gestanden, dann sinkt sie zusammen. Ich habe versucht sie in die Wohnung zu ziehen. Ich spüre, es hat eine Verwandlung gegeben. Ich greife nach ihr und ich versuche ihr Leben zu finden. Dann habe ich meine Tat bemerkt. Das hat mich hart getroffen.
Wollte mich dann selbst …. habe aber in der Panik das Messer nicht gefunden, bin in meine eigene Wohnung und habe anderes Messer gesucht. Die Nachbarin hat geläutet, ich habe kurz gesagt, es sei alles in Ordnung. Kurz danach hat es geklopft und die Polizei bittet um Einlaß. Ich war im Bad, habe mir die Bauchdecke durchstoßen. Mußte mich spontan entleeren. Habe mir erneut die Bauchdecke durchstoßen um zum Herzbeutel zu gelangen. Es schmerzte gar nicht in der Zeit. Die Polizei hat mich an der Tür zum Badezimmer mit Pfefferspray attakiert. Da war für mich natürlich klar, was ich angerichtet hatte. In dem Sinne bin ich ja auch gestorben, biologisch bin noch noch am Leben. Für mein jetziges Empfinden war es ein erweiterter Selbstmord. Obwohl Saskia jetzt als erste gestorben ist.
Muß dazu sagen: Lügen hätten kein Sinn, ich würde alles zugeben, was als Möglichkeit einzuräumen wäre. Sicher war es eine Ausnahmesituation.


Jetzt wird es wirklich vollkommen grotesk, indem er das Stichwort „Lügen“ selber aufgreift und unglauliche Ausreden und Darstellungen vorbringt. Winfried als Erfüller eines Diktums, als ausführender Helfer ihres Wunsches zu sterben. Wieder so eine rethorische Seifenblase. Er glaubt sich das vielleicht tatsächlich, ist ergriffen von seinem eigenen Schicksaal. Er hat sich alles so zurechtgelegt als tragischer Held, der eigentlich nur das Beste wollte. Ich bitte meine unsachlichen Sarkasmus zu entschuldigen, aber eigentlich spottet er über die Tote und das Gericht kann ihm keinen Einhalt bieten. Anwalt Lechner wird in seinem Schlussplädoyer auf diese Lügenarie und Winfried Brenners Selbstgerechtigkeit eingehen und sehr emotional und über sein Amt hinaus den Angeklagten angreifen und ihm vorwerfen, dass er hier grosse Worte schwingen würde und eigentlich nur ein brutaler Messestecher sei, der sich selbst nicht in Gesicht sehen könnte: „Absolut schäbig, wie Sie sich hier verhalten haben“.
Denn eine sehr wahrscheinliche Annahme der Wirklichkeit dieses Nachmittags ist: Er hatte schon längere Zeit Saskia mit dem Messer bedroht, sie vielleicht sogar weiter telefonieren lassen. Er hatte ihr irgendwann mit dem Tod gedroht, sollte sie aussprechen, dass sie nicht mehr mit ihm zusammensein will ( worüber es wahrscheinlich zwischenden den beiden schon des öftereren Auseinandersetzungen gegeben hatte). Er hatte ihr offenbart, schon einmal eine Frau getötet zu haben, weil diese sich trennen wollte.
Er gibt sogar in der Verhandlung kurz und kryptisch zu, er hätte sie zum Schweigen bringen wollen, er hätte einen drohenden Eklat verhindern müssen. Der Richter fragt an diesen Stellen leider nicht nach.
Er fragt allerdings in Bezug auf das zum angeblichen Selbstmord gezogene Messer, ob er, Brenner, sich damit nicht Liebe erzwingen wollte? Dem Richter und der Kammer ist klar, dass -auch in Anbetracht all der Vortaten und der Hinweise in Saskias Wohnung, in Anbetracht des nackten Opfers, des halbnacktenTäters, eine versuchte Vergewaltigung absolut anzunehmen ist, doch eben ohne Zeugen nicht beweisbar ist, letzlich zur Aburteilung nichts beitragen kann. Sie glauben ihm kein Wort, aber prüfen nur da weiter, wo es um die eigentliche Tat geht. Man drückt aufs Tempo, das Strafmass ist von vornherein kalr, man will die Sache fachgerecht zuende bringen, man hält sich an diffusen Punkten nicht länger auf.
Das kann im Nachhinein noch wütend machen, denn genau hier wird ja letzlich das Opfer und die Situation übergangen, in der sich Saskia befunden hat und die Brutalität und die seelische Grausamkeit, die Winfried schon im Zeitraum vor der eigentlichen Tat herauskehrte. Diese Würdigung ist eben nicht Aufgabe der Verhandlung und das ist bitter. Da es keine Zeugen und Beweismittel gibt, wird im weiteren -kurzen- Verlauf dieses Prozesses nur das Tatgeschehen an sich, der mit zahlreichen Spuren relativ deutlich nachvollziehbare Tatvorgang und dessen Be- und Aburteilung im Mittelpunkt stehen.
Ratajczak beharrt auf seiner Version der Liebes und Verzweiflungs-Tat:

„Ich habe Ihnen geschildert, meine hochgradige emotionale Abhängigkeit. Da besteht kein Zusammenhang zur anderen Tat. Sie war meine Diana. „Du bist meine Göttin“, habe ich gesagt, ohne sie wollte ich nicht leben.“


Auch Konstantina nannte er „Diana“, er wiederholt sich und sein Schema. Und hat sich neue Fantasien überlegt:


„Ich wäre sicherlich bereit gewesen -mit der Zeit- mich komplett zurück zuziehen. Durch ihr „ich sterbe jetzt“ ist überhaupt erst die Situation entstanden. Hätte sie anderes gesagt, hätte ich anderes gemacht. Das habe ich als Aufforderung interpretiert.
„Ich habe mich an keiner Stelle selber geschont bei diesem Geschehen, in diesem Zusammenhang. Es heißt, ich hätte 14 mal zugestochen. Wann habe ich gestochen? Man weiß, man hat zugestochen und dann fällt alles zusammen, erst an der Stelle“


Diese Aussagen machen mich auch beim erneuten Lesen vollkommen sprachlos. Dieser Mensch hat niemals an sich weitergearbeitet, nicht nach dem irren Geschehen in Wien, nicht im Gefängnis, nicht in der Zeit in Freiheit, in der Zeit seiner Beziehung zu Marianne Brenner, die das Glück hatte, nicht die „grosse Liebe“ zu sein, wie es auch der Richter am Schluss des Prozesses anmerken wird. Er ist nach wie vor von sich und seiner Auffassung überzeugt. Er hatte immer hin Einzeltherapie im Gefängnis, außerdem Psychodrama und Entspannungsthearpie und nach seiner Entlassung 1996 bis zum Jahr 2000 eine Therapieauflage und letztlich war er nicht thearpierbar.
Gutachter Professor Nedopil führt in der Verhandlung an, dass der Angeklagte ein sehr intelligenter Mensch sei und u.a. einem Gutachter (wie damals, dem Dr. Gross in Wien) glaubhaft gemacht habe, die Trennung von Konstantina Ulitsch überwunden zu haben. Seine Entlassung damals wäre ein Fehler gewesen. Der Angeklagte könne durch Intelligenz viel kompensieren.
Professor Nedopils Anmerkung weist deutlich darauf hin, wie gross das manipulative Potential des Winfried B. ist und wie er es geschickt in den Dienst seines Egos stellt.


„Als Kind habe ich einmal in einem Traum gesehen, wie sich mein Gesicht verändert und ich ein Idiot geworden bin. Nur ein Idiot kann seine Freundin umbringen.“


Einzig dieser Satz kommt vielleicht einer -wie auch immer gearteten Wahrheit- noch am nächsten.
Das letzte Wort hat der Angeklagte:


„Ich würde alles geben, um das entsetzliche Geschehen ungeschehen zu machen. Ich bin hier Anschuldigungen und Lügen ausgesetzt. Am letzten Tag vor Saskias Tod bin auch ich biologisch gestorben. Saskia war eine ungewöhnliche Frau. Sie hat ohne an sich zu denken in die Klinge gegriffen, Dafür werde ich mich bis zum letzten Atemzug schämen. Danke.“


Und selbst hier probiert er nochmal, sich als verirrter Liebender darzustellen, der aus dem Leben scheiden wollte und unglücklicherweise seine Partnerin dabei tötete, die in selbstlos vor der Selbstrichtung bewahrt hat. Fast möchte man ausrufen: „Ja, warum hast du dich dann nicht umgebracht, sondern Saskia?!“ Winfried will sich als das Opfer der Umstände und seiner sensiblen Liebe sehen. Er hat sich zum Richter ermächtigt, er hat sich eine „license to kill“ erteilt. Er hat das Todesurteil ausgesprochen gegen Konstantina in Wien 1984 und jetzt gegen Saskia 2013 in Prien. Ihr beider Vergehen war, sich von ihm trennen zu wollen, ihm nicht mehr gehören zu wollen. Dafür wurden sie von ihm zumTode verurteilt und von ihm in persona auch ausführender Henker hingerichtet. Dann war er zufrieden denn er hatte gesiegt.
Am Landgericht Traunstein wird er 2014 wegen Totschlags verurteilt zum strafrechtlichen Höchstmass von 14 Jahren. Plus der Option auf Sicherungsverwahrung, da eine weitere Gefährlichkeit anzunehmen ist. Es ist der Kammer da keine Nachlässigkeit vorzuwerfen, das bestätigt auch eine Staatsanwältin. Sie wollten ihn wegpacken und das haben sie auch gemacht. Das Urteil ist revisionssicher.
Und trotzdem: Wenn man selber den Prozess verfolgt hat und im Rückblick jetzt nochmal in Erinnerung ruft dann werden viele Defizite deutlich, die sich auch in der Urteilsbegründung ausdrücken. Die Urteilsbegründung ist ja bekanntlich eine interne juristische Abfassung, die in den Formulierungen stets vorsichtig abwägend sein muss und manche inhaltliche Kompromisse- entgegen der wahrscheinlichen Wahrheit- machen muss. Ich habe mir das lange erklären lassen, denn ich habe diese Begründung als nachträgliche Ohrfeige für Saskia und auch für die anderen Opfer gesehen. Dort sind teilweise die lügenhaften Aussagen des Angeklagten eins zu eins übernommen, weil man im Gericht diese nicht widerlegen konnte. So muss gelten, in dubio pro reo. Und dann steht dort eben, dass z.B. die frühere Ehefrau Marion Zagermann keiner Gewalt ausgesetzt gewesen wäre, obwohl jedem im Saal klar war, wie er sie behandelt haben muss. Aber man hat sich da nicht die Mühe gemacht, dafür z.B. in Paderborn vorhandene Aktenzeichen extra einzusehen etc. Und Marion Zagermann wollte, weil sie schwerkrank war und aus purer Angst vor diesem Mann nicht nach Traunstein kommen. Sie war telephonisch befragt worden. So „konnte sich das Gericht kein eigenes Bild von der Zeugin machen“. Und deshalb wurde niedergeschrieben, dass es keine Gewalt gegen die frühere Ehefrau gegeben habe. Die Vortaten waren sowieso für die Urteilsfindung für die Tat 2013 juristisch nur begrenzt relevant.
Und um auf Nummer sicher zu gehen und keine Revisionsmöglichkeit zuzulassen, hat man eben eine Gewaltanwendung gegen Marion Zagermannn als unwahrscheinlich protokolliert. Das hätte man, sagt auch die befreundete Staatsanwältin, auf alle Fälle zumindest besser abfassen können. So dass, bei aller Revisionssicherheit auch eine Würdigung des und der Opfer aufscheint. Man beliess dem Angeklagten in der Urteils- begründung auch seine Selbstmordabsichten und liess in Frage kommende Vergewaltigungsabsichten unter den Tisch fallen.
Und so wurde -zumindest in diesem Dokument, das zwar nicht für die Öffentlichkeit geschrieben ist, aber doch eine Niederlegung, ein Zeitdokument ist, seiner Perspektive in einzelnen Punkten recht gegeben. Man hat sich nicht die Mühe gemacht, zumindest anklingen zu lassen, was wahrscheinlich am Nachmittag passiert ist, aber im Detail vielleicht nicht nachweisbar. Auf diese Weise hat man ihm dann doch Zugeständnisse gemacht und er hat sozusagen das Gesicht gewahrt. Das Dokument muss lügen, um nicht angreifbar zu sein. Indirekt hat er zum wiederholten Male manipulieren können.
Auch wenn der Angeklagte mit seinen Märchen vom armen Liebenden kein mildes Urteil erfuhr, keinen strafrelevanten Bonus erhielt. Es wurde auf „Totschlag“ geurteilt und war bei genauerer Betrachtung und wenn man z.B. die Aussagen des Bruders von Winfried verwertet hätte- was vieleicht juristisch Mühe gemacht hätte- ein Mord gewesen. Mit vorheriger Androhung. Auch Konstantinas Mutter hatte er damals in Wien, geleich nach seiner Entlassung aus der U-Haft per Telefon bekannt gegeben: „Von dir werden nur ganz kleine Fetzchen bleiben, aber vorher muss ich noch etwas anderes erledigen.“
Es wird klar, dass eben auch 2014 immer noch die letztlich undurchschaubare „Beziehungstat“ im Hintergrund des Denkens und Urteilens stand. Massive Veränderungen sowohl im Bewusst sein der Justiz, als auch in den Möglichkeiten der Auslegung der bestehenden Gesetze, als auch einer Neuabfassung erscheint notwendig. Wäre die gesamte Form des Prozesses mit dem heute doch ausgeprägteren Bewusstsein anders augefallen?

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. So erschien es nicht, wenn man es aus Sakias Perspektive sieht. Was nicht wirklich relevant erschien, und wo man während des Prozesses nicht recht weiterkam, obwohl die Fragen im Raum standen wurde pragmatisch und rasch weitergespult, weil ja das Urteil wahrscheinlich ohnehin schon klar erschien. Und das ist der Punkt, der die Würde des Opfers betrifft, denn darauf wurde nicht eingegangen: In welcher Situation befand sich Saskia vor der Tat, die Geiselnahme und Messerbedrohung und versuchte Vergewaltigung vor der Tötung, diese besondere Infamie, hätten geprüft werden müssen, auch wenn sie nichts am Strafmass geändert hätten. Man hätte trotzde die Aussagen des Bruders gegenüber der Kripo zumThema machen müssen, um Winfried Brenner und seine Darstellung widerlegen zu können! Allein aus moralisch/ ethischen Gründen, der Person des Opfers und seinen Angehörigen und Freunden gegnüber. Das hat man nicht gemacht, aus juristischen Gründen oder auch aus Bequemlichkeit oder weil 2014 der Begriff eines Femizid noch gar keine Relevanz hatte.

Mord oder Totschlag?

 

Winfried Brenner wurde 1984 wegen Mordes in Wien zu 20 Jahren Haft verurteilt. Einen gewisssen Nachlass gab es trotzdem damals, man hätte auch ein tatsächliches Lebenslänglich verhängen können. Nicht alle Geschworenen waren überzeugt, dass er Konstantina Ulitsch absichtlich auf offener Strasse erschossen hatte. Andererseits waren die 20 Jahre für eine „Beziehungstat“ im Verhältnis zu sonstigen Verurteilungen doch ein relativ strenges Urteil.

2014, nach der Tötung meiner Cousine, bekam er wegen Totschlags die derzeit in der BRD höchstmögliche Strafe von 14 Jahren ( ein Jahr U-Haft angerechnet). Anschliessende Sicherungsverwahrung wird vom Gericht dringend angeraten. Der Anwalt der Nebenklage, Walter Lechner plädierte auf Mord. Die Kammer sah die Mordmerkmale nicht erfüllt. Man liess den Nachmittag vor der Tat im Diffusen und machte auf diese Weise doch ein Zugeständnis an die abgemilderte Tötungs-Version des Winfried B. ! Das Opfer Saskia Steltzer kann ja nicht mehr befragt werden.

Hätte es Möglichkeiten gegeben, ein Urteil wegen Mordes auszusprechen? Oder zumindest die Situation des Opfers vor der Tat zu würdigen? Bei genauerem Hinsehen durchaus. Ich habe mir erklären lassen, eine Würdigung des Opfers ist nicht Aufgabe des Prozesses, sondern nur die Aburteilung der Straftat. Und genau das ist es, was Wut und Trauer erzeugt. So wird das Opfer in gewisser Weise ignoriert und übergangen.

 

§ 211
Mord

 (1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. 
 (2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oderum eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,

§ 212
 Totschlag
 (1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. 
 (2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen. 


Da Winfried Brenner bereits als Winfried Ratajczak tötete und obwohl diese Tat weit zurück liegt, ist der Vergleich von Konstantina Ulitsch zu Saskia Steltzer klar: Er tötete diese Frauen, weil die Frauen sich trennen wollte. Er tötete, weil er für sich in Anspruch nahm, dass sowohl Konstantina 1984, als auch Saskia 2013, ihm gehören würden, sein Besitz seien. (Beiden gab er sinnigerweise den Namen Diana) Das zum Beispiel kann und darf man ja nicht anders als Habgier und somit als niedersten Beweggrund auslegen. Damit würde man dieses Verhalten, das sich ja in allen schrecklichen Variationen dauernd und überall wiederholt, als das benennen, was es wirklich ist: Mord.

Da hat sich das Gericht 2014 dann doch darum herum geschlichen. Aus Zeitersparnis, weil das Strafmass sowieso klar war, weil man sich nicht zu viel Mühe machen wollte, nochmal extra nachzuhaken?

Sie sollte sein Eigentum sein und bleiben. Er muss es direkt oder indirekt angekündigt haben. Es gibt dafür einen Zeugen, den Bruder von Winfried. Er hat das bei der Polizei zu Protokoll gegeben. Auch wenn er im Prozess nicht als Zeuge aussagen wollte, nichts mehr mit Winfried zu tun haben will. Wenn die Kammer gewollt hätte, hätte sie seine protokollierten Aussagen auf die eine oder andere Weise trotzdem auswerten können und müssen. Der Richter zitierte im Prozess kurz sogar daraus: Saskia habe am Telefon zum Bruder geäussert, dass sie Angst hätte zu sterben. Auch dass Winfried ein Messer habe und dass sie wisse, was er gemacht hat. Alles das bedeutet: Sie wurde von ihm bedroht, sie hatte Todesangst, er hat ihr eiskalt serviert, dass er bereits eine Frau getötet hatte, die sich trennen wollte.
Er war dazu bereit, die Grenze war duchbrochen, so weit war er und weil er diesen Schritt der eigenen Entlarvung bereits gegangen war, konnte er sowieso nicht mehr zurück.
In der Verhandlung machte er einen Ansatz zu einem Zugeständnis in Richtung Wahrheit: Er müsse zugeben, er hätte sie zum Schweigen bringen wollen, wegen eines drohenden Eklats. Das hat er miteinander verknüpft, die beiden Inhalte: Die Messserattacke und „zum Schweigen bringen.“ Niemand hakte bei dieser Aussage nach.
Es wurde quasi übergangen. Viele seiner Angaben, waren oft verschwurbelt und halbwahr. Aber an dieser Stelle steckte eine tatsächliche Wahrheit und Wirklichkeit dahinter. Warum hätte er das sonst so formuluiert, denn es war keine Schutzbehauptung mehr, keine Verdrehung.

Es blieb ihm, aus seiner Perspektive, keine andere Möglichkeit, als sie irgendwann zum Schweigen zu bringen. Denn er hatte sie in Geiselhaft genommen in der Wohnung, die Balkontür geschlossen. Er hat sie dann auch noch irgendwann mit dem Messer bedroht und gezwungen, sich auszuziehen, wie er das schon in anderen Beziehungen praktiziert hatte, er wollte sie mit dem Messer in der Hand zur Liebe zwingen. Sie schrie ihn an: „Hau, ab, lass mich in Ruhe!“ Sie wehrte das Messer ab. Sie befreite sie sich für einen Moment irgendwie und rannte nackt und in Todesangst und wahrscheinlich schon mit einer Stichverletzung, vielleicht hatte er sie beim Wegrennen mit dem Messer schon im Rücken erwischt, über den Wohnungsflur zur Tür auf den Treppenabsatz, schlug hinter sich die Tür zu, konnte vielleicht gar nicht mehr weiter und schrie: „Hilfe, ich sterbe jetzt!“, während er in dieser Sekunde bereits die Tür von innen aufriss und ihr rücklings mit aller Gewalt das Messer hineinschlug. Sie war gelähmt, ihr Rückenmark durchtrennt, sie sackte zusammen, er zog sie in die Wohnung und stach dann von vorn auf die am Boden Liegende ein. Das alles ist ein nicht wirklich nachprüfbares und doch sehr wahrscheinliches Szenario und von niedersten Beweggründen und seelischer Grausamkeit geleitet. Und schliesslich musste er mit seinem Gewaltakt auch die Straftat der versuchten Vergewaltigung und der Geiselnahme verdecken.

In der Urteilsbegründung, die -wie ich mir sagen liess- nur zu juristischen Zwecken dient, eine Revision auszuschliessen soll, hätte man zumindest einen Anklang dessen formulieren können, was anzunehmen ist.

Eine Begründung ist doch auch eine Hinterlassenschaft, ein Dokument
Sie ist nicht für die Öffentlichkeit und doch auch ein Teil Geschichtsschreibung, Niederlegung. Und dieses Dokument muss lügen, weglassen, um nicht anzweifelbar zu sein. Das ist -auch wenn Winfried B`s Verurteilung „fachgerecht“ war, bitter und traurig.