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„Uns geht es gottlob unverändert“

Ein Schauplatz der weit verzweigten Story des Recherche-Theater-Projekt „Die Mühlengeschichte“ ( https://dabinnus.de/die-muehlengeschichte/ )  ist auch der Ort St.Gallen:

Die Brüder Werner und Ludwig Meyer, 9 und 12 Jahre alt, kommen dort im Herbst 1936 an. Plätze in einem Internat sind freigeworden. In NS-Deutschland wird die Lage für ihre jüdische Familie immer kritischer. 

Die Meyers besitzen im damaligen Ostpreußen einen großen Mühlenbetrieb, der bald vom NS-System „arisiert“ wird. Einige Familienmitglieder können noch nach London, Schweden, oder in die USA gelangen. Die Eltern von Werner und Ludwig jedoch versuchen in Deutschland zu bleiben, in der vagen Hoffnung auf einen Zusammenbruch des Systems. 

Im Frühsommer 1939 kann sich die Familie noch einmal in Lindau treffen. Daß dieses Zusammentreffen das letze sein würde, kann zu dem Zeitpunkt niemand ahnen. 1939 müssen Dr. Hans Joseph und Lotte Meyer zwangsweise ihren ostpreußischen Wohnort verlassen und nach Berlin umsiedeln. Sie werden schließlich 1943 nach Theresienstadt und 1944 nach Auschwitz deportiert. 

Seit 1936 schreiben die Eltern Meyer regelmäßig an ihre Söhne, ebenso wie viele Verwandte und Freunde. 

Ein Großteil dieser Briefe ist erhalten geblieben und bei Brigitte Meyer in St. Gallen aufbewahrt.

Die Eltern versuchen darin eine gewisse Normalität zu bewahren, sie erkundigen sich ausführlich nach Befinden, Gesundheit und schulischem Fortschritt. Sie wollen ihre Kinder nicht ängstigen, im Gegenteil sie wollen ihnen Zuversicht vermitteln, auch wenn sich die Schlinge um ihr eigenes Leben immer mehr zuzieht. Immer mehr Zwangsmaßnahmen aller Art terrorisieren die jüdische Bevölkerung im deutschen Reich. Trotzdem schreiben Hans und Lotte Meyer immer wieder: 

„Es geht uns Gottseidank unverändert“. Sie können natürlich nur sehr versteckt mitteilen, wie es wirklich um sie bestellt ist, denn Gestapo und Wehrmacht lesen mit. So spiegeln diese Dokumente die Verfolgungsgeschichte dieser Familie versteckt zwischen den Zeilen. 

Durch die „Arisierung“ des Eigentums wird auch die finanzielle Situation immer prekärer. Immer mehr Verwandte und Bekannte versuchen Deutschland zu verlassen. Werner und Ludwig Meyer müßen schließlich das Internat beenden und auf private Unterkünfte ausweichen, sind auf die Unterstützung von wohlwollenden Bürgern und jüdischen Hilfsorganisationen angewiesen.

Schulkameraden schreiben indes aus verschiedensten Orten Europas. Manch einer sitzt irgendwo im Osten fest oder wartet in einem Hafen auf eine rettende Schiffspassage. Auch das ist brieflich dokumentiert.

Die Deportation der Eltern nach Auschwitz wird kurzfristig noch einmal abgewendet. Sie werden zunächst nach Theresienstadt „umgebucht“.

 

Auch von dort treffen noch vereinzelt Lebenszeichen in Form von Postkarten ein. Die Söhne, inzwischen junge Männer geworden, schreiben zurück. Ängste und Bedrückung,  Sehnsucht nach den Eltern.  Was sie von der tatsächlichen Situation ihrer Eltern wissen oder ahnen?  

Bis dann keine Post mehr eintrifft und die Söhne schließlich im Chaos des Kriegsendes  verzweifelt versuchen, herauszufinden, ob ihre Eltern vielleicht doch irgendwie überlebt haben. 

In der Privatheit dieser Dokumente spiegelt sich ein Abschnitt dramatischer Zeitgeschichte. Oft sehr anrührend und mit dem beständigen Versuch den Optimismus aufrecht zu erhalten, daß alles doch irgendwie gut wird und der Spuk zu Ende geht. Auswege eröffnen sich und schließen sich wieder.

Dieses Beispiel einer von zig Holocaust-Verfolgungsgeschichten ist gerade heute im neuen-alten Ausbrechen von Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft. 

Einzelne Ausschnitte aus dem Briefmaterial haben wir im Theaterabend „Die Mühlengeschichte“ und in einer Gehsteig-Veranstaltung in Berlin zitiert. Jetzt soll das gesamte Material in den Fokus genommen werden und öffentlich in einer Theaterveranstaltung/Lesung/ Performance präsentiert werden. Dazu ist es notwendig die Briefe zu scannen und professionell zu transkribieren, was einen erheblichen Aufwand bedeutet, der nicht ohne finanzielle Unterstützung geleistet werden kann. Bisher konnte ich die „Ursula-Lachnit-Fixson-Stiftung“ in Belin für einen finanziellen Beitrag gewinnen.

 

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Foto: F. Kimmel 

Shmuels Story

Der Shoa-Überlebende Shmuel Schneider wählte für seine Erinnerungen eine besondere Form: Er formulierte seine Erlebnisse in knappen Zeilen, angeordnet wie ein Gedicht oder die Verse eines Gesangs. Die hebräische Originalfassung ist in Yad Vaschem aufbewahrt.

Zwölf Jahre war Shmuel Schneider alt, als er und seine Familie mit hunderttausenden anderen ungarischen Juden im Frühsommer 1944 deportiert wurde. Teile seiner Familie wurden sofort in Auschwitz ermordet. Inmitten dieses totalen Horrors, beweist der junge Shmuel großen Mut und eine aberwitzige Waghalsigkeit. Deswegen hatte sogar Regisseur Steven Spielberg schon einmal eine Verfilmung dieses Stoffes erwogen. Denn zwischen drohender Vernichtung und der nicht aufgegeben Hoffnung auf irgendeine Zukunft hat Shmuel physisch und psychisch kaum Glaubliches durchgemacht und wundersam überlebt: Der Lagerkommandant Amon Göht („Schlächter von Plaszow“ ) hetzt beim Zählapell seine Hunde auf das Kind weil Schmuel nicht ganz in der Reihe steht. Aber die Hunde bleiben plötzlich stehen und zerfleischen Shmuel nicht. Er beschafft Materialien, um ein Radio zu bauen, er überlebt die Strafe eines im Boden eingelassenen qualvollen „Todeslochs“. Nach der Befreiung der Lager beerdigt er ganz allein seinen Vater auf einem christlichen Kirchhof, er schnallt sich an Eisenbahnwagen fest, trifft immer wieder auf Menschen, die ihm helfen und findet so sogar wieder in sein Heimatdorf und zu überlebenden Familienmitgliedern…

Die ungebrochene Kraft des Kindes, das er noch ist und auch die enge Bindung an Kultur und Religion helfen ihm beim Überleben. Die erzählerische Perspektive des 13jährigen Jungen macht diesen persönlichen Bericht sehr nahbar und dem Leben zugewandt.

Die israelische Historikerin und Autorin Ilanit Ilia hat mehrere Jahre an der Übertragung des Textes ins Deutsche gearbeitet. Der Text soll in einer Theaterveranstaltung  öffentlich vorgestellt werden. Ebenso ist eine Buchveröffentlichung in Arbeit.